Früher aus Holz, heute festgemauert....
Früher aus Holz, heute festgemauert....

 

Die Lügenbrücke oder:

 

Ein Besuch beim „Tierpark Hagenbeck“

 

 

 

Vor ein paar Tagen erfüllten wir uns einen großen Wunsch. Wir besuchten den „Tierpark Hagenbeck“. Nach wie vielen Jahren? Eine Menge Neues gab es zu sehen. Wunderbare neue Eismeer-Anlage und die Elefanten in Herdenhaltung, das schöne große Orang-Haus, das mir half, ein Trauma zu verarbeiten, Braunbären mit einer Bowlingkugel und vieles andere mehr, aber darüber berichten andere Besucher anderswo besser und ausführlicher.

 

Irgendwann kamen wir in den asiatischen Bereich. Da fiel es mir wieder ein.

 

 

 

Es ist wahr. Die Eltern sind einem irgendwie über – wenn man noch klein und unerfahren ist. Die können einem ja weismachen, im Himmel sei Jahrmarkt oder was sie sich dergleichen mehr ausdenken, um ihre Töchter und Söhne „in den Griff“ zu bekommen. Denn andere Gründe können Lügen und Schwindeleien der Eltern kaum haben.

 

Da kann vermutlich jeder das eine oder andre Geschichtchen erzählen. Das geht so lange gut, bis das Kind den Bogen selbst raus hat. Wie war das noch? Das Vermögen zu lügen, soll ja auch eine Sache der kindlichen Reifung sein.

 

Meine Mutter bildete keine Ausnahme in Sachen „Kind hinters Licht“ zu führen. Sei es, dass sie behauptete, Schwindeleien von ihren Kindern sofort zu erkennen, weil es ihnen auf „der Stirn geschrieben“ stand und dieser Satz zur Folge hatte, dass meine Schwester – wohl wissend, etwas Verbotenes getan zu haben – versuchte, ihre Stirn mit grünem Gras abzuwischen (das mütterliche Stirn-Lese-Ergebnis ist in diesem Falle nicht schwer zu erraten), sei es, dass sie vermeintlich „durch Wände“ sehen konnte, was dazu führte, dass meine Geschwister, die ein paar Jährchen älter waren als ich – versuchten, die Wände mit Decken zu behängen, wenn sie etwas Unerlaubtes vorhatten – alles Banane. Das Erkennen dieser mütterlichen Schwindeleien war nur eine Frage der Zeit. Auch bei mir.

 

 

 

Wir wohnten in der Nähe des „Hagensbeck's Tierpark“, (der aus unerfindlichen Gründen nunmehr „Tierpark Hagenbeck“ heißt) und konnten damals – zu Beginn der 50er Jahre diesen schönen Park fast umsonst besuchen, weil mein Bruder als Ponyführer beschäftigt wurde.

 

Nun ist der Park ein wunderschöner und ich liebte und liebe es, dorthin zu gehen, aber zum damaligen Zeitpunkt hatte er für mich dann und wann – denn ich war noch klein und unerfahren – einen schweren Fehler: Mitten im Park gab es eine Brücke im Stile eines japanischen Bauwerks. Ein rotes Geländer zierte den Auf- und den Abgang dieser in Bogenform gebauten Holzbrücke. Soweit noch alles im Lot. Doch ich erfuhr von meiner Mutter, dass es sich um eine „Lügenbrücke“ handele, die, begehe man sie und habe die Unwahrheit gesagt, unter den Füßen nachgeben würde. Klarer Fall vom Absturz in den darunter liegenden See, der zwar nicht tief, aber voll ekliger Entengrütze war; zeitweilig.

 

Dieses Damokles-Schwert hing also immer über mir, wenn ich mich mit einer Schwindelei herausreden wollte. Meine Geschwister wurden in dieser Hinsicht nicht mehr belästigt. Der Grund ist einleuchtend: Sie wussten, dass es nicht stimmt, das mit der Lügenbrücke; denn sie hatten schon die Weisheit von Elf- und Zwölfjährigen.

 

Ich weiß es noch wie heute, dass auch ich erhebliche Zweifel an dieser Geschichte hatte, aber ganz sicher war ich mir nicht, ließ es also vorerst nicht darauf ankommen, sondern gestand meine Schuld oder was auch immer früh genug ein.

 

Bis der Tag gekommen war, an dem ich nicht anders konnte. Ich hatte irgend etwas angestellt, keine Ahnung mehr, was. Und meine Mutter auf Inquisitionskurs kam der Wahrheit mit normalen Mitteln nicht näher. Also spazierten wir zu „Hagenbeck“. Sie hielt mich fest an der Hand, damit ich ihr nicht womöglich abhanden komme, machte unterwegs auch keine Späße mit mir, sondern fragte dann und wann, ob ich nicht lieber „gestehen“ wolle?

 

Wir kamen in meinem geliebten Park an und ich hatte ganz schönes Herzklopfen, aber ich ließ mir nichts anmerken. Im Stillen dachte ich in etwa: Na schön, dann falle ich eben ins Wasser. Und der Hintergedanke, dass meine Mutter dies nicht zulassen würde, war auch nicht von der Hand zu weisen. Sie konnte ihr Nesthäkchen doch wohl nicht ertrinken lassen. Oder?

 

Schließlich leuchtete das rote Geländer mit den runden Pfosten uns entgegen. Tapfer hielt ich darauf zu. Mag auch sein, dass ich mit den letzten Schritten eher neugierig war, was geschehen würde, als dass ich richtig Angst gehabt hätte.

 

Wir betraten die zierliche hölzerne Konstruktion. Ein letzter Versuch von Seiten meiner Mutter, ob ich denn nun endlich die Wahrheit sagen wolle? Nein? Na schön, dann gehen wir jetzt rüber. Wir gehen JETZT rüber! setzte sie nach. Und wir gingen. Und es geschah nichts. Die Hölzer im Brückenboden knarrten noch nicht einmal. Und als wir in der Mitte standen, riskierte ich schon einen Schritt ans Geländer, beugte mich rüber und sah mein Spiegelbild zwischen der Entengrütze. Ich sehe mich heute noch mir selbst zulächeln. Zwei Enten schwammen unter der Brücke, die so fest gebaut war, hindurch. Es war ein schöner Spätsommer-Tag und warm und überhaupt war die Welt total in Ordnung. Auf dem Weg nach Hause hüpfte ich neben meiner Mutter her und war natürlich erleichtert, dass ich nicht im Wasser gelandet war. Der nächste Gedanke, der mir kam, war die Frage, weshalb die Brücke nicht unter meiner Mutter zerbrochen ist. Denn wer von uns Beiden hatte nun schlimmer gelogen? All die Jahre das Märchen von der Lügenbrücke erzählt? Sie oder ich? Und meine kleine „Schandtat“, so es denn eine wahr, hatte der Brücke offensichtlich gefallen und mich trockenen Fußes rüber gelassen. Der Drops war gelutscht. Für alle Zeit!