Der Tag, an dem Struppi Arbeit bekam.....
Die Wohnung ist leer. Morgens haben ein paar Männer alles abgeholt und auf einen großen Wagen geladen. Im Flur stehen drei Koffer und mein Ranzen. Der ist noch ganz neu. Ich bin Ostern in die Schule Luttherothstraße eingeschult worden.
Im Treppenhaus stehen ein paar Nachbarn und sagen „Tschüs“. Ich winke und sage auch „tschüs“
und dann sage noch noch „bis morgen“ zu Bodo, meinem Freund, der einen Stock höher wohnt. Weil - morgen ist weit und morgen werden wir wieder hier sein. Papa drängt uns nach draußen, wo es warm
und hell ist. Es ist noch kein richtiger Sommer, aber warm. Gestern hat es geregnet und Mutti sagt, dass es gut ist, dass es heute nicht regnet. Sie hat einen der Koffer in der einen, mich an der
anderen Hand und am Koffergriff ist Struppis Leine befestigt. Papa trägt die beiden anderen Koffer. Ich habe meinen Ranzen auf dem Rücken und in meinem Arm Hannelore, meine Puppe. Die hat einen
eigenen kleinen Ranzen. Die Tante hat sie mir geschenkt. Zur Einschulung.
Vor einer großen Pfütze bleiben wir stehen und Struppi trinkt daraus. Papa sagt: „Ich bringe ihn erst morgen weg“. Es ist so, dass unser „Struppi“ Arbeit bei einem Förster bekommt. Sagt Papa. Da hat der Struppi es besser. Sagt Papa. Mutti bückt sich und streichelt unseren Hund. Sie wischt sich über die Augen, weil der Wind ihr ein Sandkorn hinein geblasen hat.
An der Haltestelle in der Osterstraße fahren wir mit der Straßenbahn und später noch mit einer anderen. Ich kenne die Gegend nicht, aber wir sind am Hafen vorbei gefahren und den kenne ich. Da bin ich vorher schon oft gewesen. Ich hoffe eine kleine Weile, dass wir hier aussteigen und einen schönen Tag am Wasser haben. Außerdem muss ich immer spucken, wenn wir längere Strecken mit der Straßenbahn fahren.
Meine Lieblingsbahn ist die Linie 1, die zu der Tante in Lurup fährt. Auch wenn mir auf der Heimfahrt immer schlecht wird, weil es bei der Tante Kuchen gibt und keine Käsebrote, die ich viel lieber esse.
Ich habe Hunger und Mutti gibt mir einen Zwieback. Ohne Milch schmeckt er mir aber nicht.
Nach dem Aussteigen gehen wir noch eine Weile und ich habe immer noch Hunger. Mutti sagt, ich müsse noch warten. Später. Später gibt es dann was. Aber wo und was. Das würde ich gern wissen, weil – in der Wohnung sind wir ja nicht und wir gehen auch nicht irgendwo hin, um jemanden zu besuchen. Das habe ich schon bemerkt.
Das Haus, zu dem wir kommen und hineingehen, ist sehr groß und sehr dunkel. Die Eingangstür, durch die wir gehen, ist riesig und schwer zu öffnen. In einem Zimmer hinter der Tür sitzt eine sehr große und sehr dünne Frau, die hat eine Brille auf und ihr Haar ist grau und glatt und straff nach hinten gebürstet. Das muss doch weh tun. Ich mag es nicht, wenn meine beiden Zöpfe so nach hinten gebunden sind. Das tut mir weh.
Als die Frau hinter dem Tisch, an dem sie gesessen hat, aufsteht, ist noch größer und noch dünner. Und ich muss meinen Kopf ganz nach hinten in den Nacken legen, um sie anzuschauen. Ich habe noch nie so eine große und so dünne Frau gesehen. Sie zeigt mit einem sehr dünnen, sehr langen Finger auf mich und sagt:
„Mein Gott, ist das Kind dünn. Das werden wir gleich verschicken.“
Ich weiß nicht wirklich, wen sie meint, denn mich kann sie nicht verschicken. Ich bin doch kein Postpaket.
Die Erwachsenen reden eine Menge, was ich nicht verstehe. Von Obdach und Schlafsaal und „wo sind die anderen Kinder“?
Ich weiß, dass meine große Schwester und mein großer Bruder gemeint sind. „Die kommen nach“, sagt Papa.
„Hunde sind hier nicht erlaubt“, sagt die sehr große sehr dünne Frau, die Frau Hünnecken heißt. Den Namen werde ich nie vergessen. Weil sie unseren Struppi nicht will, vor allem deshalb.
„Ich bringe den Hund morgen fort“, sagt Papa, „nur eine Nacht. Bitte.“
Die sehr große sehr dünne Frau, die Frau Hünnecken heißt, erlaubt es wohl, denn wir gehen nun alle zusammen in ein riesiges Treppenhaus, in dem es rechts und links Treppen gibt und dazwischen ganz viel Luft.
Wir gehen in den ersten Stock, wo Mutti und ich bleiben sollen. Mit dem Hund. Papa muss noch ein Stockwerk höher. „Die Männer schlafen mit den älteren Söhnen getrennt von den Frauen und kleinen Kindern“, sagt Frau Hünnecken. Ich glaube, Papa wird böse, aber er sagt nichts.
Wir umarmen uns und Mutti und ich kommen in ein Riesenzimmer. So eines habe ich noch nie gesehen. Da stehen außer vielen Betten, immer zwei übereinander, keine Möbel. Nur Koffer und Taschen in den schmalen Gängen dazwischen. Mutti und ich werden auch zu so einem Bett geführt und hinter den überall gespannten Wolldecken, die wie dicke Vorhänge sind, sehe ich, dass es immer vier Betten sind. Zwei neben- und zwei übereinander. Ich soll unten schlafen, Mutti oben. Ist schon ein Abenteuer. Ich denke, dass man zwischen den vielen Wolldecken wunderbar Theater oder Kaspertheater spielen kann. Es gibt auch viele Kinder in diesem großen Raum, aber ich sehe immer nur ganz kurz ihre Köpfe, dann zieht sie jemand in die Bettenhöhlen zurück. Und von allen Seiten zischelt es „Sei leise!“
Frau Hünnecken verlässt uns, nachdem sie uns gezeigt hat, wo man sich wäscht und wo die Toiletten sind. Und sie hat uns eine Küche gezeigt, in der es mindestens zehn Öfen gibt. Einen neben dem anderen. Und da stehen auch ein paar Tische an den Wänden und ein paar Bänke sind da, auf denen es sich gut klettern lässt. Was ich nicht darf.
„Hunde sind hier nicht erlaubt“, sagt eine fremde Frau zu Mutti.
Mutti erklärt ihr, dass es „nur bis morgen“ ist. Ich habe es ja gewusst. Morgen sind wir wieder in unserer Wohnung.
Aber das ist nicht so.