Mobile - die Dritte

Heute war ich in der unglücklichen Lage, längere Zeit in einer Arztpraxis zubringen zu müssen. Das ist meist ziemlich unerfreulich - wegen der verlorenen Zeit - und auch manchmal unerträglich - wegen der Praxisgerüche und anderer Begleiterscheinungen, zudem kann es auch über Strecken sehr langweilig sein, weshalb ich mir Lesestoff von daheim mitbringe.

 

Ich saß also lesend und wartend, nahm um mich herum dann und wann Wortfetzen auf; von der Rezeption Ansagen, auch die Stimme eines Arztes, der etwas rief. Türen gingen auf und wieder zu und neue Patienten füllten das Wartezimmer.

Neben mir ließ sich ein anderer Besucher der Praxis nieder, den ich nur so kurz aus dem Augenwinkel ansah (ich war ja in mein Buch vertieft).

Allerdings konnte ich mich kurze Zeit später nicht mehr wirklich auf die im Buch fortlaufende Handlung konzentrieren, denn der Mann neben mir raschelte unaufhörlich mit Papier und irgendwann nahm ich ihn näher in Augenschein. Ein Enddreißiger, vermutete ich, im brillant sitzenden dunkelblauen Anzug, helles Hemd darunter, ein Schlips, dessen Knoten er nun gerade gerade rückte. In seinem Ohr steckte das für wichtige Menschen ganz wichtige Knöpfchen, mit welchem man am anderen Ohr hing, am Ohr der Welt, um genau zu sein. Ein feines Kabel pendelte leicht und suchte sich seinen Weg in das Revers der Anzugjacke, wo es verschwand und sicher eine Allianz mit einer winzigen Apparatur einging, die die Möglichkeit, das Ohr der Welt zu empfangen, ermöglichte. Auf dem Schoß des sonnengebräunten Geschäftigen ruhte ein heller lederner Aktenkoffer vom Feinsten, der aufgeklappt war und eine Reihe von Klarsichthüllen sichtbar werden ließ. Diese Inhalte dieser Klarsicht-Hüllen wurden nun in einer sich mir nicht erschließenden Logik sortiert, umsortiert und wieder zurück sortiert. Aber es war sicher ganz wichtig, dieses Sortieren und wer bin ich denn, dass ich darüber zu befinden habe, welche Wichtigkeiten anderen Menschen wichtig sind? Nachdem ich eine Weile geschaut und gestaunt hatte, wie oft papierene Seiten ihren Klarsicht-Hüllenplatz wechseln önnen, versuchte ich, meine Konzentration wieder in mein Buch zu versenken. Ich gebe zu, es ist nicht die spannendste Lektüre, die ich mir zum Arztbesuch mitgenommen hatte. Deshalb und nur deshalb ist es vielleicht erklärlich, dass ich beim ersten „Halllloooo-o!" meines Nachbarn wieder ganz ihm zugewandt war. In Praxen treffen ja die merkwürdigsten Menschen aufeinander und kommen ins Gespräch. Vielleicht war er mit dem Sortieren fertig und deshalb nicht mehr so gestresst und ausgefüllt und er sehnte sich nach Unterhaltung? Ich lächelte ihn an und bemerkte sofort, dass er nicht mit mir, sondern mit dem Ohr an der Welt redete. Ja, ich bin lernfähig. Hab ich früher einen Dialog gebraucht, um festzustellen, dass mein Gegenüber oder Nachbar nicht mich, sondern einen Gesprächspartner in Form von „Knopf-im-Ohr" beglückte, wusste ich es schon nur vom nochmaligen Hinhören. Ha!

Er redete also mit jemandem, den er vermutlich kannte. Er erzählte dem, wo er gerade sei und was er am Abend vorher so alles getrieben habe. Interessant! Die Großmutter von Inga sei verstorben und das wäre doch ein Glück, weil Inga nun etwas erben würde. Sie sei das einzige Enkelkind. Was du nicht sagst. Der also auch. Der war doch noch gar nicht so alt.

Und schon waren sie bei allen möglichen sterblichen Überresten der Verwandt- und Freundschaft angekommen. Es nahm kein Ende. Ich erfuhr auch, wer wann eine Trauerrede gehalten hat und weshalb kein Pastor dort in der Nähe war. Dann gab er seine eigenen Wünsche preis, die nach seinem Tod doch gefälligst umgesetzt werden sollten.

Das Gespräch nahm einen langweiligen Verlauf, als es dabei um die möglichen Kosten ging. Finanzen anderer Leute haben mich noch nie interessiert. Und es wird schon nicht so schlimm werden, wo doch Inga jetzt was erbt.

Nach Ende des Gesprächs nahm der Mensch das Sortieren wieder auf. Und plötzlich, ich war wirklich wieder in die Handlung meines Romans vertieft, schrie er neben mir in mein Ohr:

„Ich bins. Auch Georg. Aber Georg Konradi. Stell dir vor, ich bin in Hamburg. Noch bis morgen Abend. Ich bin grad in der Praxis Sowienoch, hab gleich einen Termin mit dem Professor. Mein Zug geht morgen um 7, hahaha, 19 Uhr, natürlich. Bis dahin hab ich noch jede Menge Termine. Aber wäre doch schön, wenn wir uns auf eine Tasse Kaffee treffen könnten. So ein, zwei Stunden vor Abfahrt. Haben uns so lange nicht gesehen. Aber du siehst, ich habs dir versprochen. Wenn ich in Hamburg bin, denke ich an dich. Und hier bin ich. Wo bist du?"

Bis hier hatte er keine einzige Pause gelassen. Ich dachte noch, dass sein armer Gesprächspartner gar nicht zu Wort kommt, aber das musste er auch nicht. Im weiteren Verlauf war klar, dass der gar nicht zu Hause war und dort ein AB lief.

„Du bist womöglich im Ausland. Also, ich sag dir was: Heute hab ich um 2 Uhr - äh, 14 Uhr - einen Termin bei Wehmuth. Tut mir leid, ich hab diese europäischen Uhrzeiten noch nicht wieder so drauf. Da muss ich dem Buchhalter die Leviten lesen. Und um 16 Uhr hab ich schon den nächsten Termin. Dann gibt's heute Abend ein Geschäftsessen der ganz großen Liga mit den Kreuzers samt Anhang. Hab ich gar keine Lust, aber was muss, das muss. Ich kann dir sagen, das sind vielleicht ein paar Pfeifen. Morgen Früh geht es früh raus. Da bin ich zum Joggen mit Ernestine verabredet, vielleicht sagt dir der Name nichts, aber ich sage dir, das ist ein Früchtchen. Aber ein süßes. Hahahaha! Ich schaff das noch, so ein, zwei Dinge hier in Hamburg auf die Reihe zu bringen und dann sehen wir uns. Ruf mal zurück. Melde dich in jedem Fall. Du erreichst mich entweder im „Hotel Reichshof" oder unter meiner Handy-Nummer 017612......(aus Datenschutzgründen gebe ich die hier jetzt nicht total wieder, obwohl ich sie sofort behalten hatte; und wir regen uns über google auf!!!). Also, mein Lieber, denk daran, hier ist der andere Georg. Ich grüße dich."

Ende der Sabbelei.

Mal im Ernst: Erzählen Sie solche Sachen, wenn andere zuhören?

Ich war heilfroh, dass ich vom Arzt ins Sprechzimmer gerufen wurde, denn er fing schon wieder mit dem Sortieren an......

 

 

Mobile - die Vierte

 

Es muss an mir liegen. Ich bin nicht von dieser Welt. Kurze Zeit nach dem Arztbesuch radelte ich über eine unserer schönen Alsterbrücken. Als es bergauf ging, stieg ich vom Rad und schlenderte weiter. Die Sonne schien, auf der Alster waren Boote unterwegs. Jeder genoss es, dass es heute nicht regnete. Auf den Uferwiesen spielten Kinder und es lag einfach eine wunderbare Heiterkeit über allem. Hinter mir spazierte ein Paar, eingehakt und mit einem Hund an der Leine. Ich blieb stehe, machte eine kleine Pause, um das Um-mich-herum auf mich wirken zu lassen. Eine kleine Meditation, sozusagen. Ich lehnte mich über das Brückengeländer. War dieser Moment nicht einfach phantastisch? Ruhig, beschaulich, aber auch wieder mit Tönen gefüllt, die eine ganz eigene Melodie durch den Tag trugen. Das fließende Wasser unter mir, zwei, drei Kanus und ein Mehrsitzer, die Sonnenflecken tanzten auf der dunklen Oberfläche und ließen silbrige Linien zurück, ein Fröschlein sprang, und ein paar Enten nebst Schwänen suchten die Ufer nach den unbelehrbaren Fütterern ab.

Das Paar war auch näher gekommen. Plötzlich schrie sie auf: „Nein, wie phantastisch. Das ist so geil. Ich glaub es nicht."

Ah, dachte ich, eine gleichgesinnte Naturverbündete. Der Mann an ihrer Seite sagte nichts. Ich drehte mich lächelnd zu ihnen um, weil sie noch einmal ausrief, wie toll es sei. Leider hatte auch sie einen Stöpsel im Ohr und ihre Ausrufe galten mitnichten der umgebenden Schönheit unserer wunderbaren Stadt, sondern irgendeiner lapidaren Erzählung aus dem Knopf am Kopf.

Ich schob mein Rad weiter und nahm dann wieder Fahrt auf. An der nächsten Brücke, einer hölzernen am Alsterufer, die vor einigen Jahren restauriert worden war und jetzt eine gewisse Steigung hat, bin ich dann wieder abgestiegen. Ich nahm eine weitere Mütze voll des Guten und eine Auszeit von der üblichen Hektik, in die wir so leicht verfallen, selbst, wenn wir keine Termine haben. Ich schaute auf das Wasser und mein Interesse galt nun ein paar Sportlern, die einer bisher von mir noch nie gesehenen Sportart nachgingen. Sie standen auf Brettern, die den Surfbrettern ähnelten und bewegten sich mit Hilfe einer Mischung aus Paddel und Stakstange vorwärts. Es sah tatsächlich etwas skurril aus. Ich überlegte, was sie wohl machen würden, wenn das Stehen ihre Beine müde werden lässt. Hinter mir kam auch das Paar von vorhin auf die Brücke. Sie - Hand am Ohr - redete wie ein Wasserfall mit einem imaginären Gesprächspartner, der Hund trottete seines Weges, soweit es die Leine zuließ und der Mann redete - auch Hand am Ohr - mit jemand anderem - oder auch nicht? Wer weiß, vielleicht hatten sie beide auch diese Art von Kommunikation für sich entdeckt, weil das manchmal leichter ist, wenn man es nicht mehr von Angesicht zu Angesicht kann?Aber ich glaube eher, dass sie die Zeichen der Zeit nutzen. Sie müssen nicht mehr miteinander reden, sie müssen auch nicht mehr mit dem Hund reden - nein, sie können mit „der Welt am Draht " sprechen, wann immer ihnen danach ist. Und was macht es da schon, wenn sie die schöne Alster, den wunderbaren Sonnentag, skurrile Stehpaddler, die grünen Wiesen und ihren Hund nicht mehr beachten. Alles unwichtig.