Zwei Seiten

Tragisches geschieht tagtäglich. Die Zeitungen und die Herzen sind voll davon. Wer in einer Großstadt wie Hamburg wohnt, kann nahezu stündlich Zeuge von hässlichen Unfällen werden, bei denen Menschen zu Schaden kommen. Selbst verursacht oder nicht. Mitunter enden sie tödlich und dann stehen Freunde und Verwandte am Grab und trauern.

Vor einigen Jahren verstarb ein Nachbar. Nennen wir ihn um seiner Anonymität Willen Werner. Einer, der nicht ohne die Flasche sein konnte. Nein, ein Freund von mir war  er sicher nicht, aber wir hatten viel gemeinsam. Er schrieb auch, hatte vor, einen Roman zu veröffentlichen. Bevor er diesen Roman zum Ende bringen konnte, starb er. Er erlitt einen Unfall. An einer Ampel, die er bei Rot überquerte, wurde er überfahren. Noch am Unfallort stellte der Notarzt den Tod und der Pathologe später 1,8 Promille im Blut fest. Selbst Schuld, sagten die, die ihn kannten. Was säuft er auch so viel? Wir haben es immer gesagt.

Im kalten Novemberwind hatten sich an seinem Grab ganze sechs Menschen zusammengefunden. Sein Bruder, seine Schwägerin, zwei aus seiner Autorengruppe, ein Freund und der Pastor. Das ist eine klägliche Anzahl für ein Leben, was rund 60 Jahre auf dieser Erde geweilt hatte.

Die anderen, die Werner gekannt hatten, waren nicht gekommen. Sie erklärten, keine Zeit zu haben und überhaupt: Muss man noch um so einen trauern, der durch zu viel Schnaps den Tod fand? Sie hatten keine netten Worte für ihn. Dabei hatte er all die Jahre nur nette Worte für sie. Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen; hing keiner Partei an und war für einige Jahre mal zur See gefahren mit dem fernen Ziel, eines Tages Kapitän zu werden. Diverse Lebensbrüche machten dem ein Ende und darüber begann er zu schreiben. Der Roman bleibt nun unvollendet.

Der Pastor, der am Grab die Rede hielt, lobte den Toten, den er doch gar nicht gekannt hatte. Er ließ ihn gen Himmel fahren, obwohl Werner für sich eher entschieden hatte, nirgends wo hin zu fahren. Aber dagegen konnte er sich nicht wehren, weil sein Bruder es so wollte.
Wir sind schließlich Christen, sagte er. Oder auch die Schwägerin, die mehr als einmal laut darüber nachsann, dass Werner zu tief ins Glas geschaut hatte. Recht geschieht es ihm, sagte sie, wer durchs Saufen zugrunde geht, an dessen Grab soll eigentlich gar keiner stehen. Die Schwägerin war aus Österreich. Genauer gesagt aus Klagenfurt. Sie hatte Werners Bruder vor etlichen Jahren geheiratet und seitdem lebten sie in der Steiermark. Sie waren nur anlässlich der Beerdigung und der Auflösung von ein paar Habseligkeiten, die Werner zu Lebzeiten sein Eigen genannt hatte, nach Hamburg gekommen.

Vor kurzem hörte ich, dass Bruder und Schwägerin des Toten sich bei einer Beerdigung in Klagenfurt in eine lange Kondolenzliste eingetragen hatten. An einem Grab, an dem eine nahezu unüberschaubare Menge stand, mit gefalteten Händen, die Blicke gesenkt in tiefer Demut vor dem Toten. Größen aus Politik und Wirtschaft waren ebenso vertreten, wie der Weihbischoff der Stadt. Und das, obwohl dort einer begraben wurde, der auch 1,8 Promille im Blut hatte und man bei seinem Unfall, verursacht durch zu schnelles Fahren, von Glück sagen konnte, dass er nicht noch anderen geschadet hat. Werners Bruder trug sich mit den Worten in die Kondolenzliste ein: Ich habe einen Freund verloren. Er war mir stets ein Vorbild.

Werner hatte damals kein Kondolenzbuch ausliegen. Er war ja auch kein Vorbild.