U-Bahn-Fahren

Ich habe es schon mehrfach dargestellt: Die Erlebnisse in der Hamburger U-Bahn mit den Mitfahrenden sind einfach vom Inhalt her nicht zu bezahlen. Dabei sind die im Fahrpreis noch nicht einmal enthalten. Die Skurrilitäten, die einem unterkommen.

Vorweg sei ausdrücklich gesagt: Ich betone, dass ich mich hier nicht über meine Mitmenschen lustig machen will. Ich bin nur belustigt über sie und deshalb auch erfreut, dass sie mir die Fahrzeit kurzweilig halten.

 

Eine lange Fahrt liegt vor mir und habe wie so oft mein Rad dabei, weil ich den Rückweg per Pedes – also mit Hilfe der Fahrrad-Pedalen – machen will. Aber nicht allein das Rad, das als sperriges Ding von einigen Fahrgästen misstrauisch beäugt wird, zieht die Blicke auf sich. Auf meinem Gepäckträger führe ich einen Rattan-Sessel in Kindergröße mit, den ich anderen zu Nutzen verschenken werde. Es sieht fast so aus, als habe ich einen regulären Kindersitz auf dem hinteren Teil des Rades, der aber keinesfalls den Sicherheitsnormen entspricht. Die anderen Fahrgäste missbilligen dies, weil sie nicht wissen, dass der Sessel anderswo jemanden glücklich machen soll, der Leon heißt und nicht auf meinem Rad sitzt. Wir haben zu Hause darüber gesprochen und mein Mann meinte, ich könne bei merkwürdigen Anfragen der Mitreisenden ja erschreckt schauen und ausrufen: „Ach, du meine Güte. Und wo ist überhaupt das Kind geblieben???“

Solche Ideen kommen uns Beiden beim Frühstück, wenn wir den Tag, der vor uns liegt, betrachten.

Wie dem auch sei: Angesprochen hat mich keiner der anderen U-Bahn-Gäste. Aber Missbilligung. Ja, deutliche Missbilligung konnte ich in ihren Gesichtern lesen.

Hinter ihren in Sorgenfalten gelegten Stirnen konnte ich geradezu sehen, was sie dachten:

 

So eine Unvernunft, ein Rattansessel. Noch dazu ohne irgendwelche Schutzriemen, einfach so auf dem Gepäckträger mit einem läppischen Gummi befestigt und provisorisch, SEHR provisorisch, unter den Halter geklemmt. Wie soll da ein Kind sicher sitzen und mitfahren können?

Mag sein, den einen oder anderen jammert es geradezu.

Ach, die Arme. Hat kein Geld, für ihr Kind einen sicheren Kindersitz anzuschaffen. Na, wenn das die Polizei sieht. Anhalten werden sie sie und dann wird es teuer. Was steht überhaupt darauf – auf die fehlende Sicherheit eines Kindersitzes am Fahrrad?

Und dann ist das bestimmt die Oma, so alt wie sie ausschaut. Na, da wäre ich anstelle der Eltern aber vorsichtig, wenn ich ihr mein Kind anvertrauen würde. Vermutlich wissen die Eltern gar nicht, dass die Großmutter ein so unvernünftiges Sicherheitskonzept hat.

Und so weiter.

Aber vielleicht machen sie sich auch gar keine Gedanken, sondern haben genug eigene Sorgen.

 

Wie der junge Mann, der kurz vor meinem Reiseziel einsteigt. Sein Äußeres gibt klar zu erkennen, dass er nicht so ganz klar ist. Im Kopf, meine ich. Aber wie nett und höflich. Er gesellt sich zu mir. Rückt ganz nahe ran, dass ich gezwungen bin, einen Schritt nach links zu machen. Er kommt nach, sofort. Ich frage, nur um was zu sagen: „Na, alles klar?“

Er lächelt mir ganz verschmitzt zu und nickt mit dem Kopf. „Alles klar“, sagt er, und seine Stimme hat den Ton eines Reibeisens.

Er grinst mich vertraulich an, ein wenig verschwörerisch sogar. Dann fragt er:

„Wie spät ist es?“

Ich habe keine Uhr bei mir. Ich trage selten eine. Zeitlos am Wochenende. Köstliches Unterfangen.

Also antworte ich: „Das tut mir leid. Das weiß ich nicht. Aber vielleicht weiß ein anderer Fahrgast, wie spät es ist.“ Und ich weise in die Runde. „Frag die doch mal.“

Er schaut sich um. Anscheinend gefallen ihm die anderen nicht und er bleibt bei mir stehen.

„Du hast keine Uhr?“, fragt er.

Ich: „Nein, tut mir leid.“

Er ist so freundlich und verliert die ganze Zeit über nicht sein kleines Grinsen. Seine Augen schließen sich zu ganz schmalen Schlitzen, als er noch näher an mich heran tritt – näher geht es eigentlich schon nicht mehr, dann wäre er auf meinem Arm.

Seine Stimme ist schon fast ein Flüstern, als er fragt:

„Sag mal, gibt es am Richtweg (das ist die nächste Haltestelle, die kommt) eine Feuerwehr?“

Ich: „Eine Feuerwehr?“ Unwillkürlich bin ich auch leise geworden.

„Ja“, sagt er und senkt seine Stimme noch weiter. Kaum hörbar setzt er fort: „Eine Feuerwehr-Station?“

„Das weiß ich wirklich nicht. Ich denke eher, nein.“

„Aber wo gibt es denn eine?“

Während dessen hält die U-Bahn am Richtweg.

Er schaut nach draußen. „Keine Feuerwehr?“

„Nein, bedaure“, antworte ich, „aber genau weiß ich es natürlich nicht.“

Er tut mir leid. Keine Feuerwehr. Deshalb sage ich:

„Aber sicher gibt es in Norderstedt (das ist die nächste Station und gleichzeitig die Endhaltestelle) eine Feuerwehr-Station.“

Sein Gesicht leuchtet auf und das freundliche Grinsen wird breiter.

„In Norderstedt? Und wie komm ich dahin?“

„Da musst du an der nächsten Station aussteigen.“

„Und wo ist dann die Feuerwehr?“

„Das kann ich dir nicht genau sagen (ich weiß ja noch nicht einmal, ob es eine gibt, denke ich bei mir mit einem kleinen schlechten Gewissen).

„Aber“, setze ich hinzu, „ich wohne auch nicht dort ...“

„Du wohnst da nicht?“

„....nein, ich wohne nicht dort. Vielleicht kann dir jemand anderes sagen, wo du die Feuerwehr findest. Zum Beispiel der Herr, der da in der Mitte sitzt.“

Ich weise ihm mit dem Finger auf den Fahrgast, den ich meine. Ein älterer Herr mit einem Hörgerät im Ohr, soweit ich sehen kann.

„Willst du mit mir zur Feuerwehr?“ fragt der junge Mann noch und als ich den Kopf schüttele und bedauere, dass ich dazu keine Zeit habe, geht er mit seinem Lächeln, das nicht aufhört, freundlich zu sein, zu dem anderen Fahrgast hin.

Ich höre, wie er nun auch diesen fragt, ob es in Norderstedt eine Feuerwehr gibt.

Zum Glück gibt es offensichtlich eine. Ich bin so froh für den freundlichen jungen Mann.

Der ältere Herr fragt noch einmal nach, denn vermutlich ist sein Gehör nicht das allerbeste.

Dann versteht er den jungen Mann und nickt. „Ja, es gibt eine Feuerwehr.“

„Eine Feuerwehr-.Station?“

„Ja, eine Feuerwehr-Station.“

Was er denn dort wolle? Wird der junge Mann gefragt.

„Ansehen will ich sie mir. Ansehen. Tolle Feuerwehr.“

Und wieder wird nachgefragt – wegen des schlechten Hörens.

„Ah, ansehen willst du sie.“

„Und wie komme ich dahin?“

Nun wird ihm der Weg erklärt. Wie er gehen muss. Die Treppe rauf und wenn er oben ist, dann nach rechts wenden. Dann eine Straße überqueren und immer weiter geradeaus gehen. Er könne die Feuerwehr-Station gar nicht verfehlen.

Der junge Mann ist überglücklich. Er strahlt über alle Backen und lächelt mir zu, denn schließlich habe ich ihm den richtigen Mann gezeigt, der weiß, wo eine Feuerwehrstation in Nordersetdt zu finden ist. So ein Glück.

Beim Halt steigen wir alle aus. Ist schließlich Endstation und ich habe mein Ziel erreicht (hätte ich ein GPS, würde es mir genau diesen Satz jetzt sagen: Du hast dein Ziel erreicht.)

Und mein junger Mitfahrer auf Zeit hat seines auch erreicht. Er steigt aus und kommt gleich auf mich zu.

„Ich weiß jetzt, wo die Feuerwehr ist. Der Mann hat es mir gesagt. Ich weiß es jetzt.“ Und er wippt auf den Zehenspitzen, dreht seine nach unten hängenden zu Fäusten geballten Hände hin und her, ganz aufgeregt ist er.

Ich gratuliere ihm und wünsche ihm viel Spaß beim Ansehen der Feuerwehr. Ich hoffe, er kommt gut wieder nach Hause.

Ich selbst steuere auf den Fahrstuhl zu, der etwas auf sich warten lässt. Ich schaue mich auf dem Bahnsteig um, betrachte die Auslagen in einer kleinen Vitrine, nehme mein Kopftuch aus der Tasche, denn es ist windig geworden und nutze die Zeit, bis der Fahrstuhl kommt, es umzubinden. Ein Mann mittleren Alters – oder vielleicht etwas älter -, rundliche Figur, rundliches Gesicht, gutmütig dreinschauend, kommt die Treppe neben dem Fahrstuhl herab und gesellt sich zu mir.

„Wartest du auf mich?“ fragt er mich unvermittelt, aber sehr freundlich. Sein Akzent ist unleugbar das eines Orientalen wie auch sein Aussehen dafür spricht. Macht das etwa was? Nein, natürlich nicht.

Also ein weiterer Begleiter heute?

„Nein, ich warte auf den Fahrstuhl“, antworte ich und mache ebenfalls ein freundliches Gesicht.

„Schade,“ sagt der mit dem Akzent, „das ist sehr schade. Ich würde gern mit dir den Samstag verbringen.“

Ich bin etwas verlegen und denke, irgendwas muss heute an mir sein, dass mich besondere Menschen besonders anziehend finden.

„Ja, tut mir leid. Aber ich bin auf anderen Wegen unterwegs.“

Und so trennen wir uns schon wieder. Er geht zum Bahnsteig, ich erobere den Fahrstuhl. Komischer Tag, das.