Neues aus einem Wartezimmer

 

Gehst du zum Arzt, vergiss die Brille nicht. Alternativ könnte es heißen: Gehst du zum Arzt, vergiss die Lektüre nicht. Letzteres ist nicht ganz so wichtig. In den meisten Praxen liegen Illustrierte aus. Flache und gehobenere. Ich habe in einer Praxis mal ausschließlich Magazine über „Gesundheit“ gesehen. Und in einer anderen gab es Männer- und Frauenzeitschriften. In getrennten Fächern gelagert.
Aber in den meisten Praxen gibt es querbeet. Deshalb ist es – zumindest für mich – vor allem wichtig, meine Lesebrille dabei zu haben. Ohne kann ich nur die Bildchen anschauen und dann raten, wer oder was darauf abgebildet ist. Klar, manchmal nehme ich auch ein Buch mit oder eine Tageszeitung. Vorgestern hatte ich beides nicht dabei. Und ich nutze auch die modernen Kommunikationsmittel noch nicht so, wie viele es mir raten. Weshalb ich Internet weiterhin nur zu Hause habe und nicht auf meinem Smartphon, das ich im ürbigen ganz häufig vergesse, vor allem das Aufladen.
Jedenfalls konnte ich vorgestern mal wieder Studien betreiben. Meine Mitmenschen geben viel her. Selbst wenn sie ebenalls nicht mit ihren technischen Spielerein in Form von I-phons oder anderem hantieren.

 

 

 

Ich befinde mich in einer Praxis für Radiologie und habe die Röntgenstrahlung schon hinter mir. Ich habe mich auf einige Wartezeit eingestellt, weil der Arzt den Bericht für meine Hausärztin noch verfassen muss.
Das Wartezimmer ist sehr groß, aber nicht besonders gefüllt. Mir gegenüber sitzt eine ältere Frau so um die Mitte 70, bisschen vollschlank und untersetzt. Sie sitzt und starrt, hat kein Magazin in der Hand. Ihre Augen fallen ihr manchmal zu. In kleinen Abständen schaut sie auf ihre Armbanduhr. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Zeit im Alter scheinbar schneller verrinnt.
Das menschliche Zeitempfinden ist ein altersabhängiges Phänomen“, habe ich in einer Studie gelesen. Da ich auch schon seit einiger Zeit altersabhängig bin, habe ich das zu Hause mal ausprobiert. Zu dem Zweck habe ich unsere antike Eieruhr, die in der Küche an der Wand angebracht ist und das gleiche Muster hat wie die Fliesen meiner Küche, umgedreht, so dass der feine Sand von oben nach unten durchlaufen konnte. Wir benutzen diese antike Eieruhr nicht wirklich mehr fürs Eierkochen. Da sie keinen Ton von sich gibt, wenn sie mit dem Durchlaufen des Sandes fertig ist, gab es zu oft harte Eier in der Vergangenheit. Deshalb besitzen wir schon seit vielen Jahren auch eine kleine digitale Eieruhr. Auf der kann man nicht nur das Garwerden für Eier bestimmen, sondern man kann sie bis zu 99 min. einstellen, was gut ist, wenn ich zB ein Brot backe. Oder was ähnliches. Dann habe ich versucht -also nicht beim Brotbacken, sondern beim Bestimmen, wie lange 5 min sind, ziemlich genau den Endpunkt des Ablaufens zu bestimmen. Ich habe dabei gelernt: Es ist eine Übungssache und es hängt davon ab, ob ich selbst unter Zeitdruck stehe oder nicht. Jedenfalls mein Gegenüber (wir sind wieder im Wartezimmer) scheint noch keine Übung darin zu haben, denn ihr prüfender Blick auf ihre Armbanduhr wird im Laufe der Wartezeit häufiger. Und dann scheint sie der Armbanduhr nicht mehr zu trauen. Sie steht auf, geht zur Tür und wirft einen vergleichenden Blick auf die Wanduhr, die digital und praxiseigen ist.
Ob einem Wartezeiten länger vorkommen, als sie eigentlich sind, hängt auch davon ab, ob man auf etwas Schönes wartet oder ob man in Sorge ist. Oder überhaupt.
Diese ältere Dame scheint in Sorge zu sein. Das verrät mir auch der Blick, wenn sie mal aufschaut. Und sie schaut auch hin und wieder zu einer der Praxistüren, die vom Wartezimmer in einer Vielzahl abgehen. Allesamt Wege zum Schicksal, vielleicht. Auf der Tür direkt neben ihr ist ein Warnhinweis. Knallgelbes Dreieck mit schwarzem Rand, einem schwarzen Dreier-Fächer in der Mitte, der seinerseits einen schwarzen Punkt aufweist. Hier wird nuklear was untersucht.
Irgendwann geht die Türe auf und ein Mann, dünn und blass, schütteres Haar, bestimmt über 1,80 m groß, kommt heraus. Er geht etwas gebeut und zu der älteren Dame, die aufsteht und ihm entgegengeht. Wie unschwer zu erkennen: Hier ist ein trautes Paar. Sie atmet auf. Die Wartezeit ist vorbei.
Das Wartezimmer ist hallig. Ich kann die kleine Unterhaltung gut verstehen. Auch wenn ich nicht neugierig bin. Sie: „Was sagt der Doktor?“ Er: „Ja, ich soll noch zu einer Herzuntersuchung.“ Sie: „Herzuntersuchung? Da warst du doch jetzt gerade.“ Er: „Nein, zu einer besonderen. Da muss ich um 11 Uhr hin. In die Esplanade.“

 

Sie: „Um elf Uhr. Und wann?“ Er: „Um elf Uhr.“ Sie: „Ach, ich meine doch, an welchem Tag?“ „Gleich morgen“, sagt er und setzt sich auf den freien Stuhl neben ihrem, an Restknöpfen seines vermutlich hektisch angezogenen Hemdes nestelnd. Sie greift ihm in die Finger, hilft, schnürt ihm die Krawatte um und zu. Er macht eine abwehrende Handbewegung, die sie nicht im geringsten interessiert. „Also morgen dann“, sagt sie. Er: „Ja und ich kann da frühstücken und Kaffee trinken.“ Sie: „Kaffeetrinken darfst du gar nicht.“ Er sieht – wenn ich es richtig deute – etwas traurig aus. „Ich kann ja auch Tee trinken.“ Matt klingt seine Stimme. Sie: „Aber nur Kräutertee. Wenn sie den nicht haben, musst du eine Thermoskanne mitnehmen.“
Er: „Aber ich gehe doch nur zu einer Untersuchung dahin.“ Sie: „Man weiß nie, wie lange sowas dauert.“
Er antwortet nichts mehr.
Sie: „Können wir jetzt gehen?“
Er: „Nein, ich soll noch auf die Papiere warten.“ Sie: „Auf welche Papiere?“ Er: „Auf die Bilder.“ Sie: „Auf welche Bilder?“ Er schaut schon wieder so traurig. „Auf die Röntgenbilder.“ „Aha“, sagt sie und geht zur Garderobe, um Mäntel zu holen. „Wir ziehen uns schon mal an“, sagt sie und händigt ihm einen der Mäntel aus.
Ich erwarte eigentlich, dass er auf eine weiterhin unklare Wartezeit hinweist, bis die Papiere resp. Bilder kommen. Aber er schweigt. Und streift seinen Mantel über, den sie ihm zuknöpft. Fürsorge? Übergriff? Sie werden sich an diese Dinge gewöhnt haben. Lange Zeit. Hier sitzen vermutlich mindestens Goldene Hochzeiter nebeneinander. Aber man kann sich täuschen.

 

Eine Unterhaltung kommt nicht zustande. Nur kleine Halbsätze und manchmal ein „Nein“ oder „vielleicht“. Nichts von Druckreife.

An der anderen Wand, der mit den vielen Fenstern, sitzt eine Familie. Ganz sicher. Mama, Papa und zwei kleine Mädchen, noch keine Schulkinder, mittig zwischen den Eltern auf einem Stuhl. Sie sind ungewöhnlich still, die beiden. Jedenfalls sind sie bisher nicht aufgefallen. Eines der Mädchen hält ein Tablet in den Händen und drückt auf irgendwelche Knöpfe, ist aufgeregt. Das andere Mädchen versucht, den kleinen Bildschirm ebenfalls zu sehen, was ihr nicht gelingt. Es gibt einen wirklich kaum hörbaren Wortwechsel zwischen den beiden, weshalb die Mutter sich bemüßigt fühlt, eine Drohung auszusprechen. „Leise. Ich nehme euch das Tablet sonst weg.“ Sie hat „Tablet“ gesagt! Hach, ich habe es richtig erkannt. Das Gerät.
Der Vater sagt nix. Die Eltern sprechen überhaupt nicht miteinander und auch nicht mit den Kindern. Nur einmal sagt die Mutter: „Lass Marie auch mal.“ Und die eine lässt Marie. Nur um zwei Minuten später das Gerät wieder an sich zu nehmen, was erneut die weiter oben bereits erfolgte Drohung nach sich zieht. So geht es eine Weile. Ich frage mich die ganze Zeit, weshalb die Eltern sich nicht mit den Kindern beschäftigen. Sie könnten zB aus einem der großen Fenster das Geschehen auf der unten vorbeiführenden lebhaften Straße kommentieren, sich über die vielen Leute, die unten vorübergehen, sogar lustig machen und in lautes Gelächter ausbrechen. Sie könnten sich darüber unterhalten, was in der Praxis geschieht. Und Mutmaßungen darüber anstellen, wie das Wetter wird – das ist doch ein spannendes Thema, immer wieder, wenn es zu anderen nicht reicht. Aber hier? Nix. Sie unterhalten sich noch nicht einmal darüber, was sie in die Praxis geführt hat. Und so errate ich auch bis zum Aufruf des Namens nicht, wer in das Sprechzimmer muss. Es ist eines der Mädchen. Mama und sie werden von der Ärztin in Empfang genommen, was die Kleine dazu bewegt, ihre Arme hochzustrecken und bei Mama auf dem Arm ins Unbekannte zu gehen.
So klein, so voller Ängste – aber allein gelassen mit einem Tablet. Mich mach das im Innersten irgendwie wütend.
Gut, nun ist der Vater mit der zweiten Tochter allein und die Chance wäre groß, dass die beiden jedenfalls die Zeit nutzen, um eine Unterhaltung zu führen. Aber er – stumm wie ein Fisch – zeigt auf das Tablet, was sie nun in Sonderfunktion ganz allein nutzen kann, wo sie vorher die abgehängte war. Traurige Zeiten. Meine Lesart.
Dann bin ich an der Reihe, meinen Bericht zu bekommen und verlasse das goldene Ehepaar und die halbe Familie. Ich werde sie nie wiedersehen, weshalb ich sie auf Papier verewige. Für alle Fälle. Vielleicht trifft man sich im Stadtteil mal wieder. Ohne Arzt im Hintergrund. Vielleicht sehen wir uns im blühenden Frühlingsgeschehen an der Alster und können dann ganz ohne Tablet auskommen – oder auch nicht.