Jaden

Es ist mal wieder soweit und ich muss meinem Herzen Luft machen. Ich bin sicher berufsgeschädigt und froh, seit neuestem Angelegenheiten wie den folgend beschriebenen entfliehen zu können, aber eben leider nicht immer. Denn ich bin auch privat unterwegs und habe meine Augen (und Ohren) offen.

 

Viele Menschen sind beladen, hier und anderswo. Anderswo sicher zur Zeit mehr, wenn man die ganzen Kriegsschauplätze und die Länder mit Naturkatastrophen plus dem menschgemachten Schreckens-Szenario an- und nicht wegschaut. Aber zum Hin- und wegschauen braucht man nur im eigenen Viertel zu lustwandeln oder in wichtigen Geschäften wie dem wöchentlichen Einkauf unterwegs zu sein.

 

So wie ich heute Morgen. Nach einem abgehandelten Termin suchte ich den Platz auf, der sich langsam nach einer groben Umgestaltung wieder belebt. An Donnerstagen herrscht reger Betrieb. Es ist Markttag und eine Marktgasse, von Buden und Zelten gesäumt, empfängt die ersten Besucher. Der Platz füllt sich nach und nach. Angrenzend gibt es ein paar Cafés, die - weil es heute nicht regnet - auch draußen an den Freiluft-Tischen schon gut besetzt sind.

 

Eine junge Frau mit einem bis hierher duftenden Becher Kaffee vor sich, eine Zigarette in der Hand, Ellbogen aufgestützt, an der Seite eine Kinderkarre - leer! - hat sich gegenüber einer älteren Dame mit ebensolchen Attributen - außer der Karre, versteht sich an einem der äußeren kleinen Tische niedergelassen.

 

Die Beiden unterhalten sich rege. Nach ein paar Minuten, während derer ich meinem Bäcker zusteuere, gellt ein Schrei in mein Ohr, von besagter junger Frau ausgestoßen.

 

„Jaden!!!" Gellt es über den Platz. Und noch einmal „Jaden!"

 

Die Stimme ist astrein ausgebildet, derart laut zu werden. Ansonsten rührt sich nix an ihr, ahh, doch ein wenig! Die Zigarette ist in die andere Hand gewandert und der Kopf hat sich etwas angehoben, vom aufgestützten Handballen weg. Diese Bewegung allein reichte aus, um eine kleine Nuckelflasche, angefüllt mit einer hellen Flüssigkeit, vom Tisch auf den Boden zu verbringen. Die Frau flucht und - während sie aus den Tiefen neben dem Tisch noch einmal „Jaden!" ruft - greift nach dem Fläschchen, um es wieder korrekt auf die Tischplatte zu stellen.

 

Berufener Jaden - ja, wo war er eigentlich? Denn ich ordnete den Namen einem Kind zu, einem kleinen, das die Karre nicht mehr unbedingt brauchte und nun auf eigenen Beinen unterwegs ist.

Das Kind indessen konnte ich nirgends ausmachen.

Nun hörte ich die Ältere sprechen.

„Er soll doch nicht immer allein so weit weglaufen."

„Jaden!" ertönte noch einmal der schrille hohe laute Schrei der jungen Frau. Ich rate jetzt mal so drauf los: Es handelt sich bei der jungen Frau vermutlich um die Mutter des vielgerufenen Jaden. Ob sie deshalb so laut ruft, weil sie weiß, dass der Name in der Übersetzung aus dem Häbrischen „Gott hat gehört" lautet? Oder hat sie bei der Namensgebung die Tennisgöttin Steffi Graf bedacht, deren Erstgeborener, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, ebenso heißt?

 

Nun sehe ich fern am Markt auf wackeligen Beinchen einen kleinen Menschen daher kommen. Weit weg ist er und zwischen den Menschenmassen der Marktbesucher kaum auszumachen.

Aber seine Mutter hat ihn erspäht und ruft von ihrem Kaffeehaus-Tisch aus ihn schon vorsichtshalber zur Ordnung.

„Du sollst nicht immer so weit allein weglaufen. Jaden! Komm her!"

Es macht mich persönlich nervös, dass sie ihre vier Buchstaben noch nicht einmal gelüftet hat. Liegt es am großen Vertrauen, das sie in ihr Kind setzt? Ist es ein Ritual, dem sie täglich nachgehen? Er läuft weg, sie ruft ihn und er kommt zurück? Ein kleines Bürschchen, blass und mager, hat den Zielort erreicht. Ich atme auf. Sicher angekommen. Der Dialog Mutter-Kind ist damit aber auch schon abgeschlossen. Keine Begrüßung, kein In-den-Arm-nehmen. Die Mutter wendet sich wieder ihrer Gesprächspartnerin zu, Jaden ist einmal mehr unterwegs und hat jetzt eine Treppe im Visier, die zu einer vielbefahrenen Straße führt. Schon hat er sie zur Hälfte erklommen. Immerhin hat auch die Mutter das sofort erkannt.

„Jaden! Nicht da rauf!"

Es kann sein, dass das Ritual nun nicht mehr stimmt, denn Jaden kümmert sich nicht um die Stimme seiner Ruferin weiter unten. Er steigt weiter. Sie ruft weiter. Nun hat er die oberste Stufe erreicht und läuft zur Straße.

Die Mutter? Bleibt auf ihrem Allerwertesten sitzen und ich überlege, ob ich mich kümmern soll. Nein, ein älterer Herr oben an der Straße hat den Knaben kurz vor dem Einstieg in die Fluten des vorbeirasenden Verkehrs gepackt und zur Treppe zurück geführt. Er bringt ihn, den Jaden, der jetzt heftig protestiert, an den unteren Absatz zurück.

Was wird die Mutter nun tun?

„Lassen Sie sofort mein Kind los!" schreit sie und alles dreht sich um. Müsste sie nicht „Danke" oder sowas von sich geben? Spielt sie mit der Gefahr und benötigt womöglich in ihrem grauen Alltag einen kleinen Nervenkitzel? Auch jetzt ist ihr der Kaffee wichtiger. Sie ekelt sich, als sie davon trinkt und bemerkt, dass er kalt geworden ist. Die eben ausgedrückte Zigarette wird von der nächsten ersetzt und sie selbst rührt sich nicht von der Stelle. Auch die Ältere nicht, könnte altersmäßig die Oma des Kleinen sein.

 

Dann hat das Verhalten vielleicht Tradition.

 

Und Jaden ist schon wieder auf und davon. Nicht mehr zu sehen. Aber der Ruf nach ihm gellt weiter durch die morgendliche Marktlandschaft.

 

Irgendwann....... irgendwann lass ich es nicht beim Zuschauen bewenden.

Mai 2011