Tod an der Elbe

oder: Mögen Sie Stint?

Prolog

Der Hamburger Fischmarkt ist ein Garant dafür, dass es Hamburg an Skurrilitäten nicht fehlt und dass es dort – unter anderem – immer frischen Fisch zu kaufen gibt. Lange Jahre kam dieser Fisch nicht aus der Elbe, sondern von weit her. Stint, den kleinen Elblachs, gab es gar nicht mehr. Der Fluss war sozusagen stint-tot. Und nicht nur Stint, auch alle übrigen essbaren Elbfische hatten neuerdings Haare an den Flossen und Würmer im Leib, wie sich das für einen guten Fisch nicht gehört. Die Elbfischer durften überhaupt keinen Fisch mehr aus dem Strom, der Hamburgs Leben begründet hatte, herausholen. Das wurde erst in den frühen 90er Jahren wieder erlaubt. Und damit kam auch der Stint zurück. Heute bieten viele Restaurants entlang der Elbe Stint an. Spezialitäten wie „Stint in Bierteich“ oder „Stint auf Spießchen“ stehen dann auf der Speisekarte. Ich esse Stint am liebsten 'natur'; gebraten nach einem überlieferten Rezept meiner Großtante, die in einem der Hamburger Kaufmannshäuser um die Wende zum 20. Jahrhundert ihren Dienst als Köchin tat.

* 

Für meinen Mann bereite ich ein Festessen dieser Art, wenn er von 'großer Fahrt' zur Zeit des Stintes heimkommt, so wie jetzt gerade. Ich decke den Tisch festlich mit Kerzen und funkelndem Kristall für den passenden Wein, die Stoff-Servietten mit dem gestickten Monogramm stecken in silbernen Ringen, die uns meine Großmutter vererbt hat. Neben den Tellern mit dem blauen Muster – ebenfalls Erbgut aus früheren Generationen – liegt das Fischbesteck, in dessen Handgriffe geschickte Silberschmiede kleine Fische ziseliert haben. Den Esstisch deckt ein weißes Leinen und in der Mitte lassen überschwängliche Tulpen in Rot ihre Köpfe kaskadenhaft über den Rand der bauchigen Vase hinab.

Ich habe mir zwei Tage frei genommen, wie ich es oft tue, wenn die Ankunft der MS 'Lissabon' ins Haus steht, auf der mein Mann Kongo und zurück als Maschinist fährt, und trage aus gegebenem Anlass wie immer mein bestes Outfit. Dazu habe ich mir alle Mühe gegeben, die Spuren der Alltäglichkeiten aus meinen Antlitz zu verbannen.

Zarte Sphärenklänge aus der Musikanlage, zum Beispiel ein Cembalo-Stück von Scarlatti, untermalen das gesamte Ambiente.

Die Vorsuppe in der Terrine verspricht nur appetitanregend, nicht aber sättigend zu sein, der Fisch duftet unter der Abdeckplatte und die Butter demonstriert ihre Liebe zu den heißen Kartoffeln auf ihre Art. Sie schmilzt dahin und kann nicht anders.
Mein Mann kommt heim und statt einer Begrüßung fragt er:
"Stint?"
N
ach einem flüchtigen Begrüßungskuss, der mir signalisiert, dass es auch schon irgendwo einen Begrüßungscocktail gegeben hat, setzt er sich in seinen Hafen-, Teer- und Nikotin-Duft verbreitenden Arbeitsklamotten zu Tisch, greift sich die Tasse mit Vorsuppe, die ich ihm mit einem freundlichen 'Guten Appetit' gereicht habe und trinkt sie leer. Gleich danach stopft er sich einen Stint nach dem anderen zusammen mit den zarten neuen Kartoffeln in den Mund, der nebenbei ein halbes Dutzend zotiger Witze von sich gibt. Über die Witze lacht er selbst am lautesten, schallend und mit der freien Hand auf den Tisch neben den Teller schlagend. Seine eigenen Witze lassen ihn kaum Luft holen, und als es ihm doch gelingt, ist es gerade die falsche Zeit. Deshalb rutscht ihm einer dieser leckeren kleinen Fische weit in die falsche Röhre. Ich mache noch die Bemerkung, dass man mit vollem Mund nicht reden soll. Aber er schlägt meine Warnung in den Wind. Dies macht er sehr anschaulich, indem er mit beiden Armen über dem Kopf wild fuchtelnd um sich haut. Solange ich ihn kenne, ist er leicht aufbrausend und hektisch. Ungeduldig und häufig übellaunig. Und wenn er etwas tut, muss er es immer gleich übertreiben. So wie heute.

*

Die letzten Tage mit Wind von See – das ergibt immer eine braune Suppe im Strom. Wenngleich die Elbe seit einigen Jahren sogar wieder den Stint stromauf wandern lässt, ist es nicht zu übersehen, dass das Wasser immer noch nicht den blauen Himmel, sondern die Spuren der Abwässer spiegelt. Besonders bei Wind von West. Der drückt mit der aufkommenden Flut die grauen Wellen der Nordsee aus der Hamburger Bucht in die Elbmündung und hört bei Ebbe nicht damit auf. Beständig wäscht der Fluss die fremdem Stoffe wieder hinaus in die See, beständig drückt der West sie wieder zurück. Vieles sinkt auf den Grund, manches schafft es ein ganzes Stück die Elbe hinauf, womöglich bis Hitzacker. Anderes wiederum wird durch das Zutun von kleineren und größeren Wellen, die die ein- und auslaufenden Ozeanriesen mit sich führen, auch an den Strand gespült, von hier bis nach Blankenese und an die Ufer vom Alten Land. Wer zu dieser Zeit ein unfreiwilliges Bad in der Elbe nimmt – kann sein, er wird nie wieder gesehen.

                                                              ***

Die Hamburger sprechen fast ehrfürchtig von 'ihren' Stürmen. Es gibt die frühen 'Oktoberstürme', die nach dem wahrhaft goldenen Altweibersommer die bunten Blätter in ihrem Todeskampf unterstützen und die Elbe damit berieseln.  Oder die 'Novemberstürme', wenn in grauer nieseliger Regenzeit, in der es noch nicht weiß, ob's weiterhin Herbst oder schon Winter ist, die Schauerleute im Hamburger Hafen die Kragen ihrer dicken Mäntel aufstellen und die Elbsegler tief in die Stirn ziehen; dann nach einer Zeit der winterlichen Ruhe, wenn eher der Ostwind mit seiner Eiseskälte den Hafen zu einem Märchenreich aus Zuckerguss werden lässt, bei dem man staunt und fast vergisst, das es wirklich kalt ist, brechen die 'Februar-Stürme' los und brachten schon mehr als einmal die Küstenlandschaft dort oben durcheinander, rissen Stücke vom Festland und tauften sie in Inseln um oder verschluckten mal eben ganze Siedlungen mitsamt den dazugehörigen Bewohnern.

Die Westwinde der Folgemonate sind eher harmlos und tragen keine besonderen Namen. Sie kommen oft mit Regen und der Sehnsucht nach der Flucht in wärmere Gefilde. Aber ganz Unentwegte zieht es gerade dann nach Övelgönne, der Perle am Elbstrand, zu einem ausgedehnten Spaziergang am Fluss.

Es ist April, die Zeit der Stinte. Der Monat zeigt sich ganz klischeehaft, eben so, wie es sich gehört. Ich steige bei strahlendem Sonnenschein auf eine der Elbfähren und begebe mich sozusagen auf einen 'Mini-Urlaub'. Ich habe heute frei, vielleicht für lange Zeit der letzte freie Tag. Ich fühle mich aller Sorgen ledig und was später sein wird, ist mir egal. Der Himmel zeigt mal wieder sein gutes Gefühl für Farbzusammenstellungen und entwickelt eine Komposition aus gewaschenem Blau hinter den zarten grünen Ansätzen in Ast und Zweig. Keine Spur mehr von dem wilden frühen Morgen, an dem die Wolken gefüllt mit Hagel und Regen über die Stadt tobten und sich einen Teufel darum scherten, dass es vielleicht Mühe macht, ein kleines Boot über die Elbe zu rudern.

Um mich herum frohe, ausgeruhte Gesichter. Keine Menschen, die zur Arbeit hasten, sondern solche, die wie ich heute den Müßiggang pflegen dürfen. Es ist doch ein erhebendes Gefühl, an einem ganz stinknormalem Wochentag auf der Elbe zu schippern und das Treiben ringsum, die Barkassen und Schleppkähne, die großen Pötte an den Kais, das Rufen und Schreien und Schimpfen, den Schweiß der Trossen, die die großen Schiffe halten müssen, all das einfach hinzunehmen und nicht auf mich zu beziehen. Ich habe meine Arbeit an diesem Morgen schon getan und werde sicher einen Muskelkater bekommen, weil das kleine Boot gar nicht so leicht zu manövrieren war und ich auch mit dem Gewicht des Gepäcks Mühe hatte.

Die Fähre dümpelt auf dem Fluss, aber der Wellengang ist auszuhalten. Wir fahren mit auslaufendem Wasser die Elbe runter, vorbei an den Docks von Blohm & Voss und den kleineren Werften. Ich sitze an Deck, obwohl es wirklich ganz schön frisch hier draußen ist. Aber um nichts in der Welt lasse ich mir diese Atmosphäre entgehen. ICH bin heute frei und schaue den anderen bei der Arbeit zu.

Bei Teufelsbrück habe ich mein Ziel erreicht und verlasse das Schiff, na ja, es ist schon ein Schiff. Immerhin hat es Aufbauten, eine Gangway und einen starken Motor.

Kaum, dass ich das Ufer betreten habe und die Fähre – ledig einiger weniger Fahrgäste – wieder abgelegt hat, bezieht sich der Himmel mit rasch daher kommenden Wolkengebilden. Eigentlich sehen sie zu dick und schwer  aus, um so schnell zu sein, aber es hat sich gleichzeitig ein kräftiger West erhoben und schon fängt es an, ungemütlich zu werden. Doch was soll's. Ich bin das Hamburger Wetter gewohnt. Ich bin hier aufgewachsen und weiß, dass es nur verkehrte Kleidung, aber kein schlechtes Wetter gibt. Ich setze meinen Weg fort, denn ich bin eine der Unentwegten, die ich schon früher erwähnte. Außerdem muss getan werden, was getan werden muss. Auf dem Wasser reiten winzige Pferde aus Schaum geboren und die ersten Regentropfen mischen sich von oben ein. Meine Füße mühen sich durch den schnell nass werdenden Elbsand. Ich gehe mit gesenktem Kopf, denn der Regen ist alles andere als frühlingsweich. Aber in der Ferne blitzen schon wieder die ersten blauen Streifen. Das macht Mut.

Mit meinem Fuß stoße ich an einen Widerstand. Schon? Schneller als erwartet, habe ich ihn gefunden. Standen Sie schon mal so plötzlich und unerwartet vor einem Toten? Und dies plötzlich und unerwartet bekommt eine ganz andere Bedeutung, als ich es von den Todesanzeigen her kenne. 'Plötzlich und unerwartet verstarb unser lieber usw. usf.'
Hier stehe ich also und vor mir liegt ein Toter. Dass er tot ist, weiß ich. Obwohl ich entfernt damit gerechnet habe, aber keine konkrete Vorstellung von ihm in seiner Lage und unserer gemeinsamen Situation hatte, überrascht mich dann doch seine Haltung. Die ist völlig unbequem. Denn auch, wenn niemand nachgeholfen hätte – so, wie er daliegt, wäre er in jedem Fall gestorben. Sein Gesicht liegt im Sand vergraben und macht es mir leicht, ihn nicht zu kennen.

Der Strand ist, wen wundert's, menschenleer. Aber, wer weiß, vielleicht beobachtet mich gerade jetzt irgendwer von den Büschen her, die den Strand erstens säumen und zweitens die dahinter befindlichen schönen Behausungen betuchter Leute verbergen.

Da ich ihn so schnell gefunden habe, direkt hier, muss ich meinen ursprünglich gefassten Plan ändern. Ich wäre aber nicht umsonst bekannt für meine Flexibilität in ungewöhnlichen Situationen, als dass mir nicht schnell etwas einfiele.

Es dauerte ein paar Minuten, dann stand ich vor einer der Villen, die einerseits den Charme jenes Viertels ausmachen, andererseits immer wieder zu Neid Anlass geben. Wer hier wohnt, hat seine Schäfchen im Trocknen.
Inzwischen goss es in Strömen und westliche Böen bliesen mir Seewind in die Ohren. Die Klingel, die an dem Außentor angebracht war, gab fern einen Wohlklang von sich, der in einer Dorfkirche die Leute zum Morgengebet gerufen hätte. Der Ton war so unwirklich, dass mich die Stimme in der Gegensprechanlage direkt neben der Klingel in die Realität zurückriss.
»Am Strand liegt eine Leiche«, sagte ich, nachdem ich zuerst meinen Namen genannt hatte.
Die Stimme am anderen Ende meinte, dies sei ein ganz dummer Scherz, und sie hätte schon bessere Argumente von Drückern an der Tür gehört. Damit war Funkstille zwischen uns. Aber nicht für lange, denn so schnell gebe ich nicht auf. Allein, um den Gong noch einmal zu hören, hätte ich die Klingel ein zweites Mal betätigt.
»Bitte?«
»Es stimmt wirklich. Am Strand liegt ein Toter. Genau hier gegenüber.«
Nun war es sofort still. Aber dann folgte ein Summton, der mich in die Lage versetzte, das große Eisentor aufzudrücken. Am Hauseingang, der nun ein Stück weiter hinter einer kleinen Biegung des Weges sichtbar wurde, stand eine Frau mittleren Alters, also ungefähr in meinem, und winkte mir mit der Hand, ich möge doch näher kommen. Als erstes fielen mir ihre roten Pantoffeln auf und dann, dass sie einen glänzenden Hausanzug trug. Es musste die Hausbesitzerin selbst sein. Hatten die nicht immer so was wie Butler oder Mädchen?
Ich war die Ruhe selbst und streckte ihr meine Hand unter Nennung meines Namens entgegen. Dann wiederholte ich den Satz mit dem Inhalt, den sie mir zuerst nicht glauben wollte.
Ihre Hand fühlte sich kalt und trocken und irgendwie hart an. Merkwürdig, dass man solche Dinge manchmal registriert wie von einer Lupe vergrößert ins Gehirn gebrannt.
Sie hieß Frau Hennings. Kein ungewöhnlicher Name. Sie wollte sich etwas anziehen und dann mit mir zum Strand.
»Meinen Sie nicht, es wäre geschickter, gleich nach der Polizei zu telefonieren?«
Es mag daran liegen, dass ich in einer Behörde arbeite. Ich glaube eben noch an den Rhythmus der Folgerichtigkeiten.
Frau Hennigs war dieser Meinung nicht.
»Vielleicht ist es ein schlechter Scherz, es hat sich jemand dort hingelegt, um Sie zu erschrecken.«
Mein Kopf verneinte dies demonstrativ durch ein energisches Schütteln.
»Der da liegt, kann zumindest nicht mehr bewusst jemanden erschrecken. Er liegt mit dem Gesicht im Sand vergraben.«
»Wie schrecklich.«
Nun war auch Frau Hennigs hanseatisch aufgerührt.
»Nun gut«, fuhr sie fort, »ich werde die Polizei kontaktieren.«
Ich fand, dass sie das schön gesagt hatte. Geradezu klassisch. Ich sehe eindeutig zu viele Krimis. Da sind die Leute immer so cool, dass ich denke, das kann doch gar nicht möglich sein. Wäre ich in der Situation, würde ich bestimmt ganz hektisch nach der Polizei rufen. Aber – wie habe ich nun reagiert?
Völlig cool. So wie die im Film.
Frau Hennigs bat mich natürlich nicht ins Haus. Sie lehnte die Eingangstür an und legte von drinnen eine Kette davor. Vermutlich einfach eine Überreaktion aufgrund gesammelter Erfahrungen hier unten an der Elbe mit den vielen Villen und hübschen anderen Häuschen, die in ihrem Innern sicher noch viel mehr hübsche Sachen hatten. Da mag sich der eine oder andere schon mal an eventuelle verwandtschaftliche Beziehungen zu Elstern und ähnlichen Fans glänzender Geschäfte erinnern.
Es dauerte ein paar Minütchen meines heute so freien Lebens, dann war Frau Hennings wieder da, fast dem Anlass gerecht angezogen, mochte ich meinen. Ganz in Schwarz. Einem vornehmen Schwarz.
»Die Polizei wird gleich an Ort und St-elle sein.«
Na, endlich musste sie mit einem Wort über einen 'spitzen Stein stolpern'. Und ich hatte schon gedacht, es würde nie geschehen.
»Wir sollen alles lassen, wie es ist und nichts anfassen«, gab sie mir, ganz gewohnt, andere zu unterweisen, zu verstehen.
Auf die Idee wäre ich nie gekommen.
Der Regen ließ nach und der blitzblaue Streifen aus der Ferne hatte sich aufgemacht, den Himmel wieder in Besitz zu nehmen. Zum größten Teil war ihm das auch schon gelungen.
Auf dem Weg zum Wasser hörten wir schon die nahenden Sirenen einiger Streifenwagen. Sie kamen schnell und wir waren kaum bei der Leiche angelangt, als auch schon die ersten Blaulichter in den Strandweg einbogen.
Sie fuhren wie die Teufel. Und das in der Nähe von Teufelsbrück!
Neben mehreren Streifenwagen trafen auch zivile Fahrzeuge ein, vermutlich die von der Kripo, und dahinter fuhr noch ein Rettungsfahrzeug, welches garantiert zu spät kam.
Ja, gestern Abend, da wäre er vielleicht rechtzeitig eingetroffen, aber leider hat ihn keiner alarmiert.
Die Wagen hielten einen gebührenden Abstand vom Toten und damit auch von uns. Aus den zivilen Wagen stiegen gleichzeitig mehrere Männer aus und riefen anderen zu, dass der Platz gesperrt werden solle. Obwohl in den TV-Serien schon darauf geachtet wird, dass dann und wann mal eine Weibsperson mit dabei ist, hier fehlte sie ganz.
Wir, also Frau Hennings und ich, wurden aufgefordert, unsere Personalien abzugeben und dann das Feld zu räumen.
Jetzt, wo es anfing, spannend zu werden!
Ich musste doch nun wirklich wirklich wissen, warum der Tote sein Gesicht
im Sand vergraben hatte.
Vielleicht hatte er zu lange seinen Kopf in den Sand gesteckt? Hatte nicht gemerkt, dass er Zeit seines Lebens nichts gemerkt hatte? Dass er einmal zuviel völlig blind in der Gegend herumgetappt war und auf Gefühle seiner Mitmenschen keine Rücksicht genommen hatte? Und dann seinen Kopf nicht schnell genug wieder aus dem Sand hatte herausziehen können?
Frau Hennings und ich jedenfalls mussten bei den Wagen bleiben oder ganz verschwinden. Die Beamten zogen um den Fundort der Leiche ein rot-weiß markiertes Band, auf dem stand »Polizei – Betreten verboten.«
Ich glaube, es stand auch 'Tatort' drauf.
Was im Übrigen nicht stimmte, aber das konnten die ja nicht wissen.
Ein Beamter forderte mich und auch Frau Hennings auf, unsere Sohlen auf einem Stück Karton abzudrücken.
»Wir müssen Ihre Abdrücke von anderen möglichen beim Tatort abziehen«, gab er uns eine Erklärung.
Probleme gab es vor allem bei meinen, denn die hatten ein dickes, sehr grobes Profil, was sich im Laufe des Hin- und Hergerennes auf dem Strand gut mit Sand gefüllt hatte. Immerhin, ein Polizist machte meine Sohlen sauber. Das war doch mal was.
Einer der Beamten kam zurück und schüttelte sich.
»Einen Fisch hat der im Hals; einen Fisch!«
Sie sprachen darüber, nicht zu leise. Ich konnte das meiste verstehen. Also der Tote hatte, als sie ihn umdrehten, einen Fisch im Hals. Einen kleinen zwar, aber immerhin. Papiere hätten sie nicht bei ihm gefunden. Also ab in die Medizinische.
Die ganze Zeit schoss
ein emsiger Fotograf sein Blitzlichtgewitter auf den am Boden Liegenden ab. Der wehrte sich kein bisschen. Mag er in seinem Leben vielleicht auch pressescheu gewesen sein, hier und heute zeigte er es nicht mehr.
Die Beamten am Wagen diskutierten noch immer über den Fisch.
»Der Mann hat nur kurz in der Elbe gelegen, vielleicht ein paar Stunden. Also hat er den Fisch beim Versuch, im Wasser zu atmen selbst gefangen?«
Auf diese Äußerung folgte ein, zugegebenermaßen sehr unpassendes, Gelächter. Alles, was recht ist, aber so was macht man nicht im Angesicht des Todes! Da geht ja jede Würde verloren.
»Es ist kein frischer Fisch.«
»Wie bitte?«
Die beteiligten Polizisten schauten sich fragend an.
»Es ist ein gebratener.«
»Waaas?! Das wird ja immer besser.«
»Dann muss ihn jemand damit gefüttert haben.«
Erneutes Gelächter.
»Fragt sich nur, wer und weshalb?«
»Und was für eine Art Fisch ist das?«
»Sieht aus wie ein Baby-Lachs.«
»Wird ja immer besser. Lachs als Henkersmahlzeit.« 

Wir wurden nun noch einmal aufgefordert, endlich abzuschwirren. Genau so drückte es einer der Beamten aus.
Er meinte nicht nur Frau Hennings und mich, sondern all die Schaulustigen, die jetzt am Strandweg das Geschehen am Wasser beobachtete. Hat eigentlich schon mal jemand das Phänomen untersucht, wie es zu solchen Menschenansammlungen an Plätzen kommt, die vorher völlig verödet waren? Es war doch nicht ein einziger Zweibeiner hier, als ich den Toten fand. Die Beamten von der Kripo hatten festgestellt, dass es sich um eine männliche Leiche handelt. 'Männliche Leiche' sagen sie jetzt, wenn sie über ihn reden.
Es wird nicht leicht sein, seine Identität festzustellen, haben sie gesagt. Keine Papiere, keine sichtbaren besonderen Merkmale. Aber das wird schon noch...
Am nächsten Morgen war ich sogar in der Zeitung. Gleich auf der Titelseite. Ich meine, wer mich gut kennt, hat mich gleich erkannt. Die anderen werden eher Probleme haben, in dem verwaschenen Foto mit den vielen Köpfen meinen auszumachen, und außerdem war der Mittelpunkt natürlich der am Strand Liegende.
Mein freier Tag war vorbei, aber traurig war ich nicht darüber. Ich hatte ihn genossen. In allen Phasen seines Ablaufs. Ich war nur ein wenig müde, denn es war trotz der Abwesenheit vom Arbeitsplatz ein arbeitsreicher Tag mit vielen Tätigkeiten, die für mich ansonsten ungewohnt waren. Auch hatte ich nicht ausreichend geschlafen, aber ich nehme an, dass ich dazu über kurz oder lang noch Zeit haben werde. Ich weiß es abzuwarten und die Ereignisse auf mich zukommen zu lassen. Einige Kollegen sprachen mich auf das Foto in der Zeitung an.
»Stimmt es wirklich? Du hast den gefunden? Ihbrrr. Möchte ich ja nicht. Wie war er denn so?« Was soll man darauf antworten? Nass? Das war es wohl nicht, was sie interessierte. Sie wollten Details über das Gesicht mit dem Fisch mittendrin und ob er 'aufgequollen' gewesen sei.
»Aufgequollen?«
»Ja, vom Wasser. Wenn der so lange im Wasser gelegen hat... «
»Aber er hat doch nicht lange im Wasser gelegen.«
»Und der Fisch? Wie kommt der Fisch in seinen Mund?«
»Er wird zuletzt Fisch gegessen haben.«
»Oh, du nun wieder... «

Diese Geschichte fand ihre Leser über die Anthologie "Mord à la Carte", erschienen bei Edition Ponte Novu, 2003

http://www.welt.de/print-welt/article335742/Verdaechtige-Viererbande-am-Tatort-im-Literaturhaus-Cafe.html
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