In der Küche befanden sich mindestens zwanzig dieser fetten blauen Fliegen. Sie hatten den Weg aus dem Müllschlucker in Helenes Wohnung gefunden und sorgten auf den Essensresten des Vorabends für Nachwuchs. Anders als die sterbenden Straßenbäume, die täglich rund 150 l Wasser zum Überleben benötigten, erfreuten diese Begleiter warmer Sommerumstände sich eines immer besser werdenden Lebens.

Helene war aus einem schweren Schlaf von dem ununterbrochenen Summen der Insekten geweckt worden. Ihr dünnes Nachthemd klebte am Körper, und sie tauschte es, kaum dass sie aufgestanden war, gegen einen uralten Unterrock aus Leinen, der schon nach kurzer Zeit die Erbschaft in Sachen Körperschweiß angetreten hatte. Nasse Flecken breiteten sich auf Brust und Rücken aus. Barfuß ging Helene zum Balkon, dessen Tür auf Kipp stand, und öffnete diese weit. Die Raumtemperatur änderte sich nicht. Mit einem Geschirrhandtuch versuchte Helene, die fetten Fliegen zu erschlagen oder aus der geöffneten Tür hinaus zu scheuchen. Beides misslang kläglich.

Seit sie ihre Rente bezog, bewohnte Helene die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im 6. Stock eines der vier weißen Wohntürme, an denen der Architekt außer seiner Bauklotz-Symmetrie nichts an Phantasie aufgeboten hatte. Schlicht und ergreifend standen die Türme in einem Riesenquadrat, durchkreuzt von einigen wenigen Rasenflächen und einem Spielplatz, auf dem Schaukeln bleiern an mageren Gestellen hingen und dessen Klettergerüst verwaist stand, hartes Schattengebilde auf den Sand zeichnend, der zu Staub verkommen war. Die Wasserspiele in der Mitte des Platzes, sonst Treffpunkt für Jung und Alt, waren abgestellt. Die hohen Platanen, die einstmals als Schattenspender gepflanzt worden waren, hatten viele ihrer Blätter abgeworfen. Kluge Bäume, dachte Helene. So hatten sie weniger Fläche, von der das gespeicherte Wasser verdunsten konnte.

Eine helle Flöte intonierte den Kanon 'Bruder Jakob' in der gegenüberliegenden Wohnung. Auch dort stand die Balkontür weit geöffnet. Die Melodie kam bis 'hörst du nicht die... ', dann hatten die Finger die falschen Löcher ab- oder aufgedeckt. Jedenfalls brach das Spiel ab und setzte neu an.

Helene schaltete den kleinen Fernseher ein.

» ...drastische Maßnahmen ergriffen. Bis auf Weiteres sind alle Freibäder gesperrt und die Trinkwasser-Versorgung wird schärfer rationiert. Es wird empfohlen, das Wasser aus der allgemeinen Wasserleitung nicht mehr als Trinkwasser zu nutzen. Die Stadtwasserwerke können keine Garantie mehr für die ausreichende Keimfreiheit geben. Wollen Sie sicher gehen, kaufen Sie Ihr Trinkwasser lieber in den angebotenen Flaschen oder warten Sie auf den Wasserwagen, der in den Ballungsgebieten zur Zeit zweimal die Woche vorfährt«, las der Sprecher von seinem Manuskript.

 Helene hatte angefangen, die Spüle von den Essensresten zu säubern. Sehr halbherzig tat sie dies. Da der Wasserhahn anstelle des sonst sprudelnden Laufs nur ein dünnes Rinnsal von sich gab, konnte sie das Küchentuch nicht richtig durchspülen. Es war ein Ärgernis.

Die helle Flöte war wieder bei der Fehlerquelle angelangt und erneut setzten die ersten falschen Töne ein.

Ihr Vater hätte bei solch einer Fehlerquote auch eine drastische Maßnahmen angewandt. Er war stets der Meinung, dass nur solcherlei Maßnahmen zur Behebung von Fehlern führten.

War es nicht seltsam, dass ausgerechnet 'Bruder Jakob' zu hören war?

Einer ihrer kleinen Brüder hatte so geheißen. Jakob. Ein helles Köpfchen, nie verlegen um Ausreden und Ideen. Mit seinen elf Jahren damals. Er hatte Weihwasser verschüttet. Aber was wesentlich schlimmer war als das Verschütten war die Tatsache, dass Jakob den Krug am Bachlauf wieder aufgefüllt hatte, anstatt noch einmal zurück zum Pfarrer zu gehen. Dummerweise hatte ihn dabei ein Schwätzer beobachtet, der nichts Eiligeres zu tun hatte als den Jakob beim Vater anzuschwärzen.

Die drastische Maßnahme war der Ochsenziemer, durch den Jakob - an beiden Handgelenken hängend in der Scheune -  für alle Zeiten von solchen Betrügereien geheilt werden sollte. Die Großmutter saß derweil auf der Küchenbank und murmelte über ihrem Rosenkranz, Mutter weinte lautlos und mit gesenktem Kopf, die anderen Kinder standen am Tisch und waren stumm. Später hatte Mutter dem Jakob Buttermilch auf den zerschundenen Rücken gestrichen und noch später hing Jakob erneut in der Scheune; diesmal am Hals. Und die Schlinge hatte er selbst geknüpft. Erstaunlich für einen Elfjährigen. Der Vater hatte wochenlang getobt, weil drastische Maßnahmen nur von ihm durchgeführt werden durften. Der Pfarrer hatte von einer Todsünde geredet und deshalb lag Jakob nicht in geweihter Erde. Armer Jakob.

Helene zog eine große Kiste unter ihrem Bett hervor und öffnete sie. Zwischen Seidenpapier und Mottenkugeln lag die Schützenuniform des Vaters, der nun auch schon lange tot war. Der dazu gehörige Hut mit dem stattlichen Gamsbart war an den ältesten Sohn weitergegeben worden. So wollte es die Familientradition. Der Vater hatte seine erste Frau um etliche Jahre überlebt. Als das neunte Kind zur Welt kam, hatte der Vater beschlossen, auch hier drastisch durchzugreifen. Er hatte statt der Hebamme die schwarze Rosl zur Geburt geholt, die Frau des Köhlers. Die verstand sich auf allerlei Krautwerk. Und der hatte er gesagt, dass dies nun das letzte Kind sein müsse. Es solle ihr Schaden nicht sein. Die Rosl war eine ganze Weile bei der Mutter allein gewesen. Dann brachte sie dem Vater ein totes Baby. »Es war zu schwach, das arme Wurm«. Und ein paar Tage später bekam die Mutter hohes Fieber, das nicht wieder besser wurde. Nach zwei Wochen waren die Kinder Halbwaisen und der Vater sah sich sogleich nach einer neuen Mutter für sie um. Die schwarze Rosl und ihr Mann verschwanden aus der Gegend und ein anderer übernahm die Köhlerhütte.

Helene hatte als drittes Mädchen in der Familie nicht sonderlich viel vom Erbe zu erwarten und was lag also näher, als von daheim wegzugehen. Schnell hatte sich eine Familie gefunden, hoch im Norden, weit weg von den Bergen, die ein Kindermädchen suchte. Ein unverbrauchtes vom Lande. Das war dann Helene. Wie lange war das schon her?

In der Kiste fanden sich Briefe von ihren Geschwistern. Wiedergesehen hatte sie keines. Und als der Vater starb, erhielt sie dieses große Paket mit der Schützenuniform und dem Jagdgewehr. Es sollte Trost sein für die erlittene drastische Maßnahme, die der Vater ihr hatte angedeihen lassen, als er feststellte, dass sie Angst vor der Dunkelheit hatte. Da musste sie mit ihm eines Nachts zum Hochstand und er ließ sie dort allein. Die ganze Nacht. In einer viel zu dünnen Jacke. Und ohne Trinken.

 

Den letzten Einkauf hatte Helene vor Tagen erledigt. Seitdem hatte sie es vermieden, die Wohnung zu verlassen. Sie hatte ihre Badewanne mit kaltem Wasser gefüllt und setzte sich jeden Tag für einen Moment dort hinein. Mit dem Trinken war sie sehr sparsam umgegangen. Mochte der Doktor sagen, was er wollte. Sie hatte einen genialen Trick für sich gefunden. Das gekaufte Trinkwasser fror sie in eigens dazu angeschafften Eiswürfelbehältern ein. Es löschte auch den Durst, wenn sie anstelle der vielen Gläser Wasser einen Eiswürfel in den Mund nahm, der langsam schmolz. Das konnte sie ein paar Mal am Tage machen und deshalb lange mit ihrem Vorrat auskommen.

 

Von drüben erklang noch immer die helle Flöte. Es machte sie kribbelig, immer und immer wieder den gleichen Fehler zu hören. Konnte dieses Kind nicht einmal fehlerfrei spielen? Oh ja, sie hatte dieses Kind schon häufig auf dem Balkon gesehen. Ein Junge, vielleicht sieben, acht Jahre alt. Der Kopf schaute gerade über das Balkongeländer. Ein dunkler Schopf, ein helles Gesicht. Mehr ließen ihre altersschwachen Augen nicht erkennen. Auch seinen Namen wusste sie natürlich nicht. Sie kannte kaum jemanden, weder in ihrem eigenen Wohnturm noch in den anderen.

 

Sie hatte viele Jahre im Haushalt der Familie als Kindermädchen gearbeitet. Später hatte sie auch tatsächlich einmal geheiratet, aber das war schon so lange her. Kaum, dass sie Erinnerungen an ihren Mann hatte. Die Ehe war kinderlos geblieben.

Helene nahm ein verblichenes Foto aus der Kiste. Ihre ganze Familie war darauf zu sehen. Bei einer der wenigen Gelegenheiten von einem Fotografen aufgenommen. Vermutlich bei einer der vielen Taufen, denn das Jüngste auf dem Foto trug ein weißes langes Gewand. Weiß, kühl. Ihr Unterrock klebte an ihrem Rücken und verursachte ein unangenehmes Jucken, wenn der Stoff sich bei einer der Bewegungen löste. Sie versuchte, ein befreiendes Kratzen dort anzubringen, was ihr aber nicht gelang. Sie war nicht mehr so beweglich, ihre Arme schafften es nicht, die Hände zwischen die Schulterblätter zu schieben. Sie stand auf und schubberte ihren Rücken am Türpfosten beim Balkon.

'Bruder Jakob, Bruder Jakob... ' tönte es von draußen. Sie beugte sich über das Geländer. Ja, die tote Taube, die seit Tagen auf dem Sims unter ihrem Balkon lag, war noch da. Auf dem erstarrten Körper, dessen Flügel wie in einem letzten Flug ausgebreitet über dem Mauervorsprung hinab hingen, wimmelte es von allerlei krabbelndem Leben. Das war so. Nichts starb vergeblich. Immer war der Tod für irgend jemand anderen gut.

Die Kreuzwege zwischen den Türmen flimmerten. Helene trat zurück ins Zimmer und hörte dem Sprecher in der noch immer laufenden Nachrichtensendung weiter zu.

»Die A 7 ist aufgrund des aufgequollenen Asphalts bis auf Weiteres nicht befahrbar. Autofahrer werden dringend ersucht, Nebenstrecken zu nutzen.«

So, die A 7. War das nicht die Strecke an die Ostsee? Sie fuhr ohnehin lieber an die Nordseeküste, mit dem frischen Seewind - wenn er denn wehte. Dies bezweifelte sie im Moment stark. Nirgends schien sich ein Lüftchen zu regen.

Von der Straße herauf stieg ein unangenehmer Brodem, eine Mischung aus Abgasen und Hundekot, der seit Tagen nicht vom Regen weggewaschen wurde.

Die kleine Melodie nahm wieder ihren Anfang und kam wieder nur bis zu den Glocken.

Der Sprecher hatte einen Gast im Studio.

»Können wir denn zumindest in absehbarer Zeit mit einer Abkühlung und mit Regen rechnen?«

Der Studiogast schüttelte heftig den Kopf und bedauerte sehr. »Es wird noch anhalten. Wir haben große Sorge. Die Ernte ist jetzt schon nicht mehr zu retten.«

»Was raten Sie den Menschen in unserem Sendegebiet?«

»Im Schatten bleiben. Viel trinken, Tee oder gekauftes Wasser. Auf keinen Fall mit unbedeckter Haut oder ohne Kopfschutz nach draußen gehen. Und den Aufruf beachten, das Wasser nicht mehr zum Trinken zu nutzen. Um die Lage nicht noch zu verschlimmern, sollte allerdings das Wasser auch nicht mehr für den Zierrasen oder die Geranien genutzt werden.«

Helene schaltete das Gerät aus. Soso, ihre Geranien sollte sie nicht wässern. Sollte sie die gar verdursten lassen? Auf keinen Fall. Der Sessel aus Lederimitat, in dem sie gesessen hatte, wollte eine Verbindung mit den Stellen ihrer Haut eingehen, die nicht von dem Leinen des Unterrockes bedeckt waren. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als Helene sich mit Mühe erhob. Sie musste ihre Geranien in Sicherheit bringen.

Sie trat auf den Balkon. Von gegenüber erklang unermüdlich 'Bruder Jakob'. Sie schaute sich die Kästen mit den hängenden Blumen an. Lieber würde sie auf ihr Bad verzichten, als ihre Pflanzen verdursten lassen.

Sie hob den ersten Kasten aus der Verankerung und trug ihn ins Badezimmer. Hier hob sie unter Mühen eine Pflanze nach der anderen aus dem Behältnis und setzte sie ins Wasser, welches schnell durch die Blumenerde, die sich vom Wurzelwerk löste, schwarz wurde.

Nach einer kurzen Weile hatte sie es geschafft, Ihre Geranien waren alle in der Wanne und hatten es richtig gut. Einige waren zwar zur Seite gekippt, aber das machte nichts. Sie würde sie am Tag X, wenn alles wieder seinen normalen Gang ging, richtig zurück in die Kästen pflanzen.

Der Balkon sah ohne die kleinen roten und orangefarbenen Blüten verändert aus. Richtig gerupft. Entwohnt. Und drüben spielte ein Kind immer noch falsch.

Helene überlegte, ob sie die Balkontür nicht lieber schließen solle. Irgendwie drang diese kleine Melodie tiefer und tiefer in ihr Bewusstsein. Sie war sich auch nicht im klaren, ob sie ihre Medikamente schon eingenommen hatte. Dort lagen sie in bunten Schachteln auf dem Tisch. Direkt daneben lag ein Kästchen mit Unterteilungen: Morgen Mittag Abend Nacht stand in weißen Buchstaben darauf. Helene schüttete die Medikamente aus und fing an, die Portionen abzuteilen.

Morgen Mittag Abend Nacht - Morgen Mittag Abend Nacht

'Bruder Jakob, Bruder Jakob' ging die Flöte drüben. Nun hatte sie sich vertan. Ärgerlich. Also noch mal von vorn. Morgen Mittag Abend Nacht - hatte sie nicht für den Morgen immer zwei von den rosa Pillen? Oder war es abends? Wenn doch bloß diese Flöte aufhören wollte zu spielen. Kurz überlegte sie, ob sie vielleicht rufen solle, aber ihre Stimme war so klein, es würde sie niemand dort drüben hören.

Über den Türmen ertönte der Rotor eines Hubschraubers, der bedrohlich näher kam und über das Dach hinweg verschwand. Nach und nach wurde er leiser. Helene empfand dieses Geräusch als eine Wohltat neben der Penetranz der Flötenmelodie.

Sie beschloss, sich einen Eiswürfel aus dem Fach zu holen, wie zur Belohnung sozusagen.

Auf dem Weg zum Kühlschrank erblickte sie ihr eigenes Spiegelbild in dem mannshohen Flurspiegel. Klein und rundlich war sie, der Unterrock fleckig von der Nässe, die immer wieder in kleinen Bächen zwischen ihren Brüsten und Schulterblättern hinablief. Ihr graues Haar hing lang herunter und war nur noch ein trauriges Überbleibsel der Haarpracht, die sie einmal gehabt hatte. Es klebte an ihrem Nacken und an der Stirn und plötzlich war ihr bewusst, weshalb ihr so warm war. Kein Wunder, bei dem Pelz auf dem Kopf. Sie suchte und fand im Badezimmerschrank das passende Werkzeug: Eine richtige Haarschneideschere, die sie vor langer Zeit einmal erstanden hatte. Sie griff mit der Linken und schnitt mit der Rechten. Eine Strähne nach der anderen fiel zu Boden, bis Helene, die nie in ihrem Leben auch nur entfernt an einen kurzen Haarschnitt gedacht hatte, nun in ihrem Alter mit einer Frisur dastand, die jedem Mönch zur Ehre gereicht hätte.

Helene kicherte. Sie hatte eine drastische Maßnahme ergriffen. »Ja, Vater«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, »das hättest du nicht von deiner frommen Helene gedacht, was?«

Fromme Helene. Wie merkwürdig, was ihr heute alles einfiel. Jakob und die Mutter, das tote Baby und nun gar die fromme Helene. So hatte ihr Vater sie ab und an genannt. Weil sie gar so fromm war? Nein, eher, weil er allen Kindern Beinamen gab.

Es fühlte sich gar nicht schlecht an, dieses kurze Haar. Sie bückte sich und sammelte die Strähnen auf. Dünne Strähnen. Und doch war eine erkleckliche Menge zusammengekommen. Wohin damit? Was hatte ihre Mutter immer gesagt? Haare gehören in den Kompost. Sie sind gut für die Erde. Also warf Helene sie in die Badewanne zu den Pflanzen.

An den Eiswürfel dachte sie nicht mehr. Sie musste endlich ihre Pillen sortieren. Der Arzt hatte gesagt, sie dürfe auf keinen Fall die Pille vom Morgen vergessen. Die vom Morgen? Helene war sich gar nicht mehr sicher. Es konnten ebenso gut die vom Abend sein. Oder Mittag. Oder Nacht? Am sichersten war es, sie nahm sie alle auf einmal, dann konnte sie nichts verkehrt machen. Ein Glas Wasser. Langsam füllte es sich aus der Leitung.

Helene nahm sich von jeder Pille eine, obwohl sie genau wusste, dass die rosa Pillen am Morgen immer zu zweit auftraten. Aber vielleicht hatte sie schon eine genommen?

Dann trat sie an die Balkontür und lauschte. Die Flöte war verstummt. Sie atmete auf. Die kleinen Pillen klebten an ihrer Handfläche, ihr Kopf fühlte sich so leicht an. Sie nahm die bunte Mischung in den Mund und spülte mit einigen Schluck Wasser nach.

Der Boden vom Balkon brannte unter ihren Fußsohlen. Das Eisengitter war kaum anzufassen. Obwohl die Wohntürme mit Menschen vollgestopft waren, war kaum ein Laut zu hören. Und dann ertönte es wieder, das Flötenlied  'Bruder Jakob'.

Es hatte noch nicht genug drastische Maßnahmen gegeben, das sah sie ein. Sie hatte heute die Macht, nicht ihr Vater. Helene griff zum Gewehr, das auf dem Tisch lag. Es war schwer. Ihre untrainierten Arme, die in zuviel Haut steckten, hatten Mühe, die Waffe auf das Geländer des Balkons zu hieven. Mit viel Energieaufwand lud sie durch. Ja, das konnte sie noch. Sie visierte den gegenüberliegenden Balkon an und drückte ab. Nahezu zeitgleich mit dem explosionsartigen Geräusch verstummte das Flötenspiel. Der Schuss hatte Helene nach hinten geworfen. Das Gewehr war ihr aus der Hand gefallen. Sie stand auf, hob das Gewehr hoch und lehnte es fast zärtlich gegen die Balkontür. Man musste mit solchen Dingen vorsichtig umgehen.

Alles war still. Sehr still. Helene dachte daran, dass sie heute noch nicht ihr kaltes Bad genommen hatte. Sie ging ins Badezimmer und wunderte sich nur kurz über das schwarze Wasser. Als sie - angekleidet wie sie war - sich in die Wanne zwischen die Geranien gleiten ließ, hörte sie in weiter Ferne ein Martinshorn.

Menschen müssen immer Krach machen, dachte sie, dabei braucht es nur einiger weniger drastischer Maßnahmen, und der Lärm hört auf.

Presseinformation zur Anthologie „Gluthitze“, Verlag edition ponte novi

(Juni 2004)

 Die immer gleiche, stets beim selben Ton falsch gespielte Flötenmelodie führt zu einer Tragödie, wird sie doch von Minute zu Minute unerträglicher für die einsame alte Frau auf dem Balkon der Nebenwohnung: In ihre Erinnerungen versunken und diesen unentrinnbar ausgeliefert, steigert sich das Eintauchen in ihre Kindheit zur Besessenheit, bis Gegenwart und Vergangenheit, Wahn und Wirklichkeit der ihr unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannten Erfahrungen untrennbar miteinander verschmelzen und eine folgenschwere Kurzschlußhandlung auslösen