....oder vom Wert des Geldes

Gestern war noch strahlender Sonnenschein, heute goss es in Strömen und die herbstlichen Gaben der Bäume hatten sich in einen Matschbelag auf der Straße verwandelt, trieben in kleinen Rinnsalen am Straßenrand den Gullys zu.

Um die letzte Hausecke biegend falle ich fast über Jonas.

Jonas kenne ich hauptsächlich wegen seines Fünf-Uhr-morgens-Getrappels in der Wohnung über mir. Das macht er mit Vorliebe am Sonntagmorgen, wenn ich ausschlafen kann. Sie müssen wissen, dass ich ein Hochbett mein Eigen nenne und dieses sich relativ dicht unter der Zimmerdecke in luftiger Höhe befindet, wo dann auch mein Kopf ruht.

Jonas übt - so vermute ich - um diese Tages- resp. Nachtzeit des Sonntags Freisprünge von was auch immer. Ich wache auf und die Deckenlampe pendelt unruhig.

Zur Schule geht er noch nicht. Seine Woche besteht aus lauter Sonntagen.

 

Nun aber sitzt er hier im Matsch direkt am Kantstein über einem Gully und vergießt, wie durch das Beben der kleinen gebeugten Schultern unschwer zu erraten ist, bittere Tränen. Ja, unverkennbar. Denn als ich sage: “Hallo, Jonas”, dreht er sein schmutzig-graues Tränen verfärbtes Gesicht zu mir. Es ist durch das Wischen der Hände nicht sauberer geworden.

Ich bin froh, meine Einkäufe eine Weile abstellen zu können, denn nichts tun wir lieber, als den Kummer der Kinder zu erforschen und - wenn möglich - zu helfen.

“Bist du traurig?” frage ich.

Er nickt und wird gleich noch trauriger.

“Was ist denn passiert?”

 

-------

 

Ich lege meinen Arm um seine kleinen Schultern, die so zerbrechlich sind. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander. Er senkt den Kopf, blickt wieder in die tiefe Schwärze des Sieles. Endlich stößt es aus ihm hervor, unterbrochen von tiefen Schluchzern und Seufzern sagt er:

“Ich habe mein Geld verloren.”

“Dein Geld? Wie viel war es denn?”

Wieder Schluchzen, Beben der Schultern.

“Zwei Euro”.

Zwei Euro. Der Wert ist ja relativ und zwei Euro sind für ein kleines Kind wie Jonas viel.

Ich schaue in den Gully.

“Ich kann nichts sehen", stelle ich wahrheitsgemäß fest.

Jonas schaut auch in den Gully.

“Ich auch nicht.”

 

Mit seinem rechten Handrücken wischt er sich nun zuerst die Nase, dann die Tränen von der Wange. Er schnieft. Ich reiche ihm ein Taschentuch.

Er weint nicht mehr. Ein Erfolg.

“Da unten ist es sehr dunkel”, stelle ich fest, “es fällt kaum Tageslicht hinein.”

Wir gucken beide angestrengt ins dunkle Loch.

“Weißt du was”, sage ich, “ich bringe eben meinen Einkauf nach Hause und dann komme ich mit einer Taschenlampe wieder, ja?”

“Mit einer Taschenlampe?” fragt Jonas, “mit einer großen?”

“Groß genug”, antworte ich im Brustton der Überzeugung.

Ich habe eine wunderbare Taschenlampe zu Hause.

Ich greife meine beiden Körbe, nicke dem Kind aufmunternd zu und eile nach Hause.

Zu Hause schüttele ich meine nassen Haare, suche und finde die Lampe und noch eine kleine Blumenschaufel, die ich als sehr nützlich ebenfalls mitnehme.

So bewaffnet komme ich zu Jonas zurück, der sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt hat. Treu hockt er am Gully. Wie ein Löwe würde er den Deckel verteidigen, da bin ich mir sicher.

Kaum bin ich neben ihm, greift er sich meine Lampe.

“Mein Vater hat auch eine Taschenlampe”, stellt er fest, “sie ist aber größer als deine.”

Er macht die Lampe an, lässt sie morsen. Es ist eine tolle Lampe.

“Mit unserer kann man auch Rot und Grün machen.”

“Leuchte in den Gully”, fordere ich Jonas auf.

Er leuchtet. Hierhin und dorthin. Ins Dunkle. Ich sehe nur Matsch. Zermanschtes Laub, sonst nichts.

“Es scheint nicht mehr an der Oberfläche zu sein”, sage ich.

Jonas runzelt die Stirn, zieht die Nase kraus, schnieft und blickt nach unten.

“Nein”, bestätigt er, “nichts zu sehen.”

Er richtet sich wieder auf und fügt dem Schmutzmuster in seinem Gesicht weitere Streifen hinzu, als er mit der Linken eine vorwitzige Haarsträhne zurück streift.

“Wir machen den Deckel auf”, schlage ich vor. Mir ist bekannt, dass es nicht ganz tief nach unten geht, sondern dass ein eingelassener Filterboden Grobes abfangen soll.

“Den Gullydeckel?” Jonas ist begeistert.

“Die Männer von der Stadtreinigung machen das auch manchmal.”

Ich werde den Wert meiner schönen Taschenlampe schon noch beweisen.

Im Grunde fiebere ich dem Einstieg in die Hamburger Unterwelt geradezu entgegen. Vermutlich ist es schon lange meine heimliche Bestimmung, im Matsch zu wühlen.

Zwischenzeitlich haben sich ein paar Leute eingefunden.

“Jonas hat sein Geld verloren”, erkläre ich, “wir wollen den Deckel aufmachen und sehen, ob wir es wiederfinden können.

Ein Nachbar hilft mir, den dicken Deckel hochzuheben. Die Kanten schrapen aneinander, dann stellen wir ihn schräg und können nun ungehindert in das fast quadratische Loch blicken.

Bäuchlings mit den Armen voran und dem Kopf halb im Gully wühle ich mit der Schaufel im Schlick.

 

Ich hätte Jonas zwei Euro geben und mir diese Drecksarbeit ersparen können, aber das wäre nicht das Gleiche gewesen. Auch ein Kind muss lernen, dass man auf Geld aufpassen muss. Geht es verloren, muss man versuchen, es wiederzufinden. Und wenn es mit Aufwand verbunden ist. Es erarbeitet sich ja nicht so mir nichts dir nichts. Das Geld.

 

Jonas ist die ganze Zeit sehr interessiert. Was für ein aufmerksamer kleiner Kerl er doch ist! Er zwängt nun seinen Kopf, an dem die lockere Haarsträhne schon wieder ein Eigenleben führt, ebenfalls in den engen Schacht und lässt von weiter oben die Taschenlampe blinken.

“Hast du schon was gefunden?” fragt er.

Meine Grabesstimme antwortet ihm aus der Tiefe, dass dem nicht so sei.

 

Die Leute - es sind inzwischen eine ganze Reihe - unterhalten sich über Dinge, die sie schon in Gullys verloren haben. Was nicht alles! Autoschlüssel, Ohrringe und vieles mehr. Die Hamburger Gullys lohnen eine Reise. Reich könnte man werden und allerlei skurrile Dinge ans Tageslicht befördern.

Nur Jonas Geld findet sich nicht an. Mein Kopf dröhnt ob dieser ungewohnten Haltung nach unten. Auch das Tageslicht schwindet und es wird im Gully immer dunkler. So sehe ich zu, dass ich wieder auftauche.

Jonas’ Mutter hat sich den Neugierigen angeschlossen, weil sie wissen will, weshalb er nicht nach Hause kommt.

Jonas erzählt ihr, dass ich eine Taschenlampe und eine Schaufel habe, und er habe gut aufgepasst und geleuchtet, auch, wenn Papas Taschenlampe besser wäre, und der Mann da, der habe mir beim Deckel geholfen, weil “allein kann sie das ja nicht.”

“Haben Sie denn etwas Wertvolles verloren?” will Jonas Mutter nun wissen, nicht sonderlich am Geschehen interessiert, eher wohl etwas ungehalten über die vermeintlichen Dienste, die ich ihrem Sohn abverlange. Sie betrachtet meine nicht mehr ganz sauberen Hosenbeine mit leicht hochgezogenen Brauen.

“Ich habe versucht, Jonas Geld wiederzufinden. Er tat mir leid.”

Jonas schaut seine Mutter an.

“Ich hab doch meine zwei Euro verloren. Guck mal, Mami, aus dieser Tasche.” Und damit kehrt er seine linke Hosentasche von innen nach außen und weist auf ein ausgefranstes Loch an deren Spitze.

“Das Geld hast du doch schon gestern beim Besuch im Hallenbad verloren, dachte ich? Jedenfalls hast du mir das gestern erzählt.”

Während Jonas seiner Mutter antwortet, werde ich krank.

“Stimmt doch auch. Aber heute war ich wieder ganz traurig, weil ich mir von dem Geld Fußballerkarten kaufen wollte, und das konnte ich doch nicht, weil ich es verloren habe.”

“Wieso erzählst du denn, das Geld sei dir in den Gully gefallen?”

“Hab ich doch gar nicht”, antwortete Jonas.

Wie wahr! Kein Wort hat er davon gesagt. Über das Wie und Wo haben wir gar nicht gesprochen. Und ich habe nicht nachgefragt.

 

Ich packe meine Taschenlampe und meine Schaufel, würdige den Umstehenden mit den hämischen Fratzen keinen Blick und kehre ihnen den Rücken.

Morgen werde ich auswandern!