Ausgewogen

„Ich bin zwar ehrlich, fromm und keusch, doch hungert mich nach Jungfernfleisch!"

Cord war es, der dieses Lied aus der verbotenen Hamburger Oper „Der missgelungene Betrug" sang, weil er gewiss einen über den Durst getrunken hatte. Getrunken auf seinen Wiegemeister Adalbert Stelling, der nun endlich - im Winter 1735 - sein Eich-Patent erworben und deshalb seine Leute in den Ratsweinkeller eingeladen hatte. Den Lehrjungen Cord, seinen Gesellen Marten, Philipp Schwengler, den neuen aus dem Schwäbischen und den alten Fritz Eyckholt; letzterer übernahm die Arbeiten, die nicht zu viel Denken erforderten. Mit seinen Katzen, die den Mäusen in der „Waage" nachstellten, bewohnte er dort einen Kellerraum. Ihm entging nichts und für ein paar Silbermünzen konnte er sehr verschwiegen sein. Ausgelassen und fröhlich hatten sie gefeiert, bis Cord dieses schlimme Lied anstimmte, was die Herren vom Nebentisch veranlasste, Stelling und seine Leute zu besserem Benehmen aufzufordern. Kein geringerer als Peter Voigt, der Präses der Commerzdeputation, hatte ihn gemaßregelt und gemeint, dass dies keine Hafenspelunke, sondern der ehrwürdige Hamburger Ratsweinkeller sei, worauf Stelling es nach zuviel genossenem Rotwein mit der Ehrerbietung nicht mehr so genau nahm. Als aber Nicolaus Hinsch, auch einer von diesen Commerzdeputierten, ihn „mein guter Stelling" nannte und verlauten ließ, dass man just beschlossen habe, im Obergeschoss der „Waage" die neue Commerzbibliothek einzurichten, erbleichte der sonst rotwangige Stelling bis unter die Haarwurzeln, sprang vom Tisch auf, wobei einige Becher zu Boden rollten und zerschellten. Aufgebracht verließ er den Ratsweinkeller; seine Leute im Schlepp.

 

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Im März 1737 wurde in den Priviligierten Hamburgischen Anzeigen „Liebhabern guter Bücher" eine Sammlung angeboten, darunter auch ein wertvoller Atlas, den die Commerzdeputierten als Symbol der grenzenlosen Möglichkeiten ihrer neuen Bibliothek ersteigerten. Buchbinder Hinrich Grothe, der mit der Ausbesserung kleiner Schäden beauftragt wurde, warf einen begehrlichen Blick darauf und meinte: „Ein schönes Stück; solches wollt ich wohl gern mein Eigen nennen."

 

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„Wenn der Wiegemeister noch mal kommt, werf ich ihn raus!" Der Ratsherr tobte. Mit welcher Verbissenheit dieser Stelling die Einrichtung der Bibliothek in der „Waage" zu hindern suchte! Gerade hatte er statt dessen das Görtzsche Palais angepriesen. Das Gästehaus des Kaiserlichen Gesandten! „Wann ist der schon mal hier! Das Haus steht oft leer und kostet Unsummen", hatte Stelling gemeint. „Wenn ihr so gut Bescheid wisst, dürfte es euch auch nicht entgangen sein, dass die Commerzbibliothek noch in diesem Mai in der "Waage" eingeweiht wird", entgegnete der Ratsherr, „und nun Schluss. Ich will von euch nichts mehr in dieser Richtung hören." Wütend war Stelling gegangen. Er ließ einen nachdenklichen Ratsherren zurück. Diese Beharrlichkeit! Stelling war immerhin nur angestellt.

 

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Die Leute der „Waage" standen in der wärmenden Mittagssonne und warteten auf den nächsten Auftrag. Fritz war in den Keller gestiegen. „Armer Mann", sagte Philipp, „emmr em Kellr hausa..." „De is nich arm", lachte Marten „de gifft sien Talers goar nich ut, hett woll all 'n scheunen Barg tohop." Philipp schaute nachdenklich. „So?" Er war sich nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hatte. Einige Hamburger Ausdrücke waren ihm immer noch nicht ganz geläufig.

 

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Bürgermeister Johann Anderson, einige Ratsherren sowie mehrere Commerzdeputierte hatten sich zu einer Feierstunde in der „Waage" eingefunden. Der Atlas sollte als erstes Buch einen Ehrenplatz in der neuen Bibliothek erhalten. Hinrich Grothe hatte ihn höchstpersönlich überbracht. Auch Stelling war zugegen. Glücklich sah er nicht aus.

 

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Fritz Eyckholt konnte bei Vollmond nicht schlafen. Selbst im Keller nicht. Er meinte, Geräusche gehört zu haben. Aus dieser neuen Bibliothek? Der wertvolle Atlas! Ja, er hatte bei der Feierstunde gelauscht und den Buchbinder beobachtet, der den Atlas gar nicht hergeben wollte! Mehrfach musste der Bürgermeister ihn auffordern, das wertvolle Buch doch nun endlich auf das Pult zu legen. Fritz beobachtete seine Katzen, deren Ohren unruhig spielten. Da war doch jemand! Er griff sich die Schlüssel, nahm die Tranlampe und stieg die Stufen bis ganz nach oben, wo er leise die Tür aufschloss. Alles schien ruhig. Der volle Mond, der durch die neuen Fenster fiel, machte den zukünftigen Lesesaal taghell. Der Atlas ruhte auf seinem Pult. Fritz hob den Folianten hoch, kaum, dass er ihn halten konnte. Einmal nur anschauen. Doch dazu kam er nicht mehr. Ein scharfer Schmerz am Hals und das Letzte, was Fritz in diesem Leben sah, konnte er niemandem mehr mitteilen.

 

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„De Fritz is inne neue Bibiltek dodbleeven!" Marten kam atemlos gerannt, um den Weddeknecht Berend zu holen, nachdem man Fritz am Morgen im Obergeschoss gefunden hatte, bäuchlings in seinem Blut liegend. Als Berend den steifen Körper vorsichtig auf den Rücken drehte, entdeckte er darunter den blutverschmierten Atlas. Er erstattete seinem Weddeherrn sofort Bericht.

 

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Im Correspondenten war über das schändliche Meucheln in der neuen Commerzbibliothek zu lesen und dass Weddeherr Anckelmann selbst die Untersuchung vornehmen würde. Manch einer war sich nicht mehr sicher, ob diese Bibliothek wirklich sein musste.

 

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Es gab keine Anzeichen eines Einbruchs, weshalb die Leute der „Waage", soweit sie anwesend waren, zuerst verhört wurden, allen voran Stelling. Der Wiegemeister wirkte nervös. „Verbergt ihr etwas?" fragte Anckelmann plötzlich. Stelling zögerte. „Also?" „Ja, nun, nein, natürlich nicht., aber der arme Fritz...- Gütiger Gott!"

 

Gerade kam Berend von der „Waage" zurück, triumphierend ein kleines Büchlein hoch haltend. Dies hatte man zusammen mit gut versteckter Ware gefunden. Ganz offensichtlich hatte der Wiegemeister ein paar Nebengeschäfte zu seinen Gunsten betrieben.„Aber nur dann und wann hab ich ein Weniges für mich...." Stellings Stimme klang erbärmlich. „Ah! Und Fritz kam euch auf die Schliche und musste sterben!" Energisch stritt Stelling diese Tat ab, verwickelte sich aber in Widersprüche, so dass Anckelmann ihn vorerst festsetzte. Stelling empörte sich lautstark, doch der Weddeherr hieß ihn stille sein. „Es wird sich herausstellen, ob ihr am Tod von Fritz unschuldig seid. Schuldig seid ihr in jedem Fall für eure Untreue." Die Bluttat traute er ihm nicht wirklich zu. Wer aber sonst hatte den Fritz so schändlich gemeuchelt? Hatte er womöglich den Atlas verteidigen wollen? Gegen den Buchbinder? Der war fassungslos. „Ihr wünschtet, das Buch wäre euer eigen. Hat Fritz euch beim Stehlen überrascht?" „Aber nein, ich beschwöre euch. Ich würde doch nie einen Menschen um ein Buch töten!" ‚Aber was für ein Buch', dachte Anckelmann und beschloss, den Buchbinder ebenfalls in Gewahrsam zu nehmen, bis die Wahrheit ans Licht kommen würde.

 

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Trotz der späten Stunde war am Liegeplatz der „Wapen von Hamburg" noch keine Ruhe eingekehrt, denn morgen sollte sie erstmalig wieder als Convoy-Schiff auslaufen. In diesem geschäftigen Trubel fragte ein Mann nach Arbeit. Von Bord der „Wapen" wurde er gerufen. „Wir können noch einen Tüchtigen gebrauchen." An Deck empfingen sie ihn und fragten nach seinem Namen und auf welchem Schiff er zuletzt gefahren sei? „Ge- Georg hois e. Do vorne segelt mei Schiff. Habs verpasst. Loidr." Und er wies elbabwärts, wo am goldenen Horizont ein großer Segler immer kleiner wurde. „Du trägst feines Zeug", stellte einer fest, „und dort segelt dein Schiff davon?" Georg nickte. „Hast du Papiere?" „Senn elle ufm Schiff." Er hatte eine seltsame Sprechweise. „Wie heißt denn dein Schiff?" „Sea...Sea-Cloud." Die Männer schauten dem entschwindenden Dreimaster nach. „So, die „Sea-Cloud" also. Doch, ja, ein schönes Schiff. Der Kapitän heißt John Miller, oder?" Georg nickte. „Jo, gnau der. John Millr is do Kapitän." Einer der Männer baute sich vor Georg auf. „Du lügst doch, Kerl, weder ist das die „Sea-Cloud" noch heißt der Kapitän Miller. Her mit deinen Papieren!" Damit wollte oder konnte dieser Georg nicht dienen und war mit einem Satz über die Reling in die trüben Fluten des Hafens gesprungen. Er ging sofort unter. Als sein Kopf wieder auftauchte, strampelte er hektisch im Wasser. Es war offensichtlich, dass er beim hastigen Sprung etwas Wichtiges vergessen hatte: Er konnte nicht schwimmen. Die Männer der „Wapen" warfen ihm ein Seil zu und zogen ihn an Bord. Trotz heftiger Gegenwehr zogen sie ihm das nasse Zeug aus. Ans Licht kam, was er vor ihnen hatte verbergen wollen: Eine lederne Geldkatze, gefüllt mit einer ansehnlichen Menge Silber- und anderen Münzen, einem großen Schlüsselbund und einem etwas nassen, doch lesbaren Dokument, das ihn als Philipp Schwengler, geboren zu Ulm, auswies.

 

©Margret und Rüdiger Silvester

verfasst im Sommer 2010 anlässlich des 275jährigen Bestehens der Commerzbibliothek zu Hamburg und aus Freude an Hamburgischer Geschichte und überhaupt....