Am Scanner

Nachbarliches

Täglich begegnen wir uns. Am Arbeitsplatz, beim Einkauf, in der Arztpraxis. Wir sehen einander. Manchmal reden wir miteinander. Mitunter wissen wir voneinander. Oft stellen wir gedankliche Gebilde an, die allesamt eitel sind und einer näheren Betrachtung kaum Stand halten würden.

Das wars mal wieder. Ein kurzer Einkauf und dann Warten; Warten an der Kasse. Eine einzige sehr junge Kassiererin hielt den Laden am Laufen, und alle schienen sich verabredet zu haben, Sonnabend kurz vor Ladenschluss ihren Wochenendeinkauf zu tätigen.

Gekonnt ließ die junge Frau die Waren über den Scanner laufen; es piepte und schnarrte, und manchmal  musste sie mühselig den Code eingeben, weil der nicht richtig erfasst wurde. Das brachte sie kaum in Verlegenheit. Die Kunden fassten sich in Geduld, hingen ihren eigenen Gedanken nach, wechselten ein paar Worte mit denen, die wie sie das Schicksal des Wartens ertrugen. Smalltalk, nichts Wichtiges, nichts Weltbewegendes. Und vielleicht doch. Die kleine Welt der Nachbarschaft wurde unter Umständen bewegt. Spiegelbild des Wesselyrings.

Die Luft im Laden war abgestanden, und Ruth wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn. In Gedanken verglich sie noch einmal die Einkaufsliste in ihrem Kopf mit den Waren im Einkaufswagen. Da lag die Pizza für ihre Mutter, die sie wider besseres Wissen kaufte. Sie selbst konnte das Zeug nicht leiden. Aber sie würde sich dazu setzen, wenn ihre Mutter die Pizza auf dem alten Holzbrett klein schneiden und essen würde. Sie würden sich beide anschweigen - wie so oft. Und ihre Mutter würde nach der Dankbarkeit in ihrem Blick suchen, der Dankbarkeit, die sie ihr schuldig war, weil die Mutter sie nach der kurzen aber heftig mit Streit beladenen Ehe wieder bei sich aufgenommen hatte. Noch nicht einmal das erwartete Kind war übrig geblieben. Es war von ihr gegangen wie alles, was sie in ihrem Leben bisher angefasst hatte. Nichts hatte sie bisher auf Dauer halten können. War sie nun schon zu alt? Sie überkam wieder dieses ohnmächtige Gefühl von Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben, was sich nicht erzwingen ließ, zu welchem sie aber immer weniger Mut hatte.

Sie fühlte sich in ihrem Plastikmantel unwohl, aber es war das einzige Kleidungsstück, das den dichten Regen, der seit heute Morgen aus allen Wolken fiel, abhielt.

Ihre Kapuze hatte sie nach hinten geschlagen und den Reißverschluss geöffnet, so dass sie zumindest das Gefühl hatte, ein wenig mehr Luft zu bekommen. Die ging ihr in letzter Zeit immer öfter einfach aus.

Die Schlange der Wartenden schob sich mühsam voran.

Mehr, dass sie es sah, spürte sie die unmittelbare Nähe der hinter ihr Drängenden. Wie sie das hasste! Nahezu Tuchfühlung hielt der Mann hinter ihr, ein kleiner Dicker, den hatte sie hier noch nie zuvor gesehen.....

(Auszug) - Die ganze Geschichte findet sich in der Anthologie "Literaturwüste City Nord"

http://www.amazon.de/Literaturw%C3%83%C2%BCste-City-Nord-oder-Waschhaus-SAGA/dp/3932696638/ref=sr_1_1/302-7176127-8290464?ie=UTF8&s=books&qid=1184247734&sr=1-1