Ziehgauner

oder : Die Kaffeerunde

Sie stellte die letzte Tasse mit einem leisen Klirren auf den dazugehörigen Teller, zupfte am Tischtuch und ließ ihren Blick über den festlich gedeckten Tisch gleiten. Kerzen, Servietten ... Da drüben werden Gisela und Bernhard sitzen, sie selbst hier und links von ihr Hubert. Sie hatte lange überlegt, wer den rechten Platz einnehmen sollte. Schließlich hatte sie das kleinere von zwei Übeln gewählt und ihre Schwester neben sich platziert. So wurde es zwar keine „gemischte" Reihe, aber das würde nur dem Goldfasan auffallen. Dem ging nichts über Etikette. Eine seiner unangenehmen Eigenschaften. Ansonsten würde sich vermutlich niemand beklagen. Sie hatte darauf geachtet, dass Hildegard neben ihrem Heinrich saß, die Kinder rechts und links davon. Sie sah dem Nachmittag mit sehr unterschiedlichen Gefühlen entgegen. Es war schon eine Weile her, dass sie alle zusammen gekommen waren. Zuletzt musste das zu Eduards Beerdigung gewesen sein. Eduard. Zärtlich glitt ihre Hand über eine der Stuhllehnen. Danach hatten sie sich nur noch in kleinerem Kreis getroffen. Sie war die Familienälteste. Die Mutter von allen? Nein, sie war keine Mutter von allen. Ihr Gesicht war längst nicht so runzelig, sie hüllte sich auch nicht in bunte Tücher.

In der Küche ließ sie sich auf einem Stuhl nieder. Eigentlich, so dachte sie, als ihr Blick schweifte, war die Küche viel zu groß für sie allein. Gemütlich, ja, aber zu groß. Größer als der gesamte kleine bunte Wagen, der damals auf der Wiese gestanden hatte. Ein Wagen von einem halben Dutzend ganz ähnlichen.

                                                        ***

Mama hatte ihr strikt verboten, mit dem Hund vor die Stadt zu gehen. Es seien Zigeuner dort. Die seien undurchschaubar und waschen täten die sich auch nicht. Sie lebten von Diebstählen und aßen Hundefleisch. Die Nachbarin hatte das bestätigt und kräftig dazu genickt. Es seien die reinsten Taschentrickkünstler. Einer lenkt dich mit Handlesen und anderem Firlefanz ab und fix wie nix bist du deine Geldbörse los. Merkst es erst viel später, weil du richtig verzaubert wirst.
Die Krämersfrau wusste auch etwas beizusteuern. Diebe und Halunken sind das. Und faul wie die Sünde. Dem lieben Gott die Zeit stehlen, das können sie. Meine kleine Türglocke halten sie fest, so höre ich nicht, wenn sie kommen und meine Ware stehlen.
Die Nachbarin fügte noch hinzu, dass sie seltsame Feste feierten und in den Wagen mit den Frauen .... sie verstummte und blickte auf das blonde Mädchen neben sich.
Du solltest dich besonders in acht nehmen. Blonde Mädchen bringen ihnen viel Geld ein, wenn sie sie in andere Länder verkaufen.

Eigentlich wollte sie gar nicht gegen das Verbot der Mutter verstoßen, aber irgendwie war sie dann doch ganz ungewollt vor die Stadt gelangt. Ja, der Hund, der war immer vorgelaufen und sie hinterher.
Vom Weiten sah sie die Menschen zwischen den kleinen bunten Wagen umhergehen.  Pferde grasten in der Nähe. Ein Feuer brannte, über dem ein Topf an einem dreibeinigen Gestell hing. Töne einer Mundharmonika wehten einzeln zu ihr herüber. Die Melodie konnte sie nicht ausmachen, aber fröhlich schien sie. Sie ging noch ein paar Schritte näher. Nun war sie ganz dicht bei den Pferden. Pferde! Ihr ganzer Kindertraum war ein Pferd. Ihren Hund dicht bei sich wissend, traute sie sich nahe heran. Sie streichelte das vor ihr stehende Pony, das den Kopf hoch warf und mit dem Schweif die Fliegen peitschte.
"Gefällt dir das Pony?"
Erschreckt wurde sie aus ihrem Traum gerufen.
Die Frau, die scheinbar aus dem Nichts getreten war, blickte sie freundlich, aber aufmerksam an. Sie hatte ein Tuch mit Fransen um die Schultern, auf das ihr Haar schwarzgelockt hinunter fiel. Zwischen den Haarsträhnen blitzte es golden, auch in ihrem Mund, der leicht geöffnet war.
Sie wusste nicht, sollte sie jetzt sofort die Flucht ergreifen oder war es klüger, keine Angst zu zeigen? Der Hund war weg! Panisch sah sie sich um und entdeckte ihn zwischen den Wagen. Ihre Kehle war ausgedörrt. Sie wusste, sie würde nicht rufen können. Jeder Laut würde zu einem Beweis ihrer Angst werden.
Die Frau strich ihr über das Haar.
"Schönes Haar hast du", sagte sie, „so fein wie gesponnenes Gold."
Sie fühlte einen Schrei in sich aufsteigen, der doch niemals den Mund verlassen würde. Sie ging einfach mit, als die Frau sie dazu einlud. Unfähig jeder Gegenwehr.
Das war Zigeunerzauber! Musste es sein. Jetzt würden sie sie einsperren, mitnehmen und irgendwo verkaufen. Und ihre Eltern wüssten niemals, was aus ihr geworden sei. Sie merkte, dass Tränen kamen und sie konnte es nicht verhindern, dass sie ihre Wangen hinabrollten. Nein, wirklich, sie wollte nicht weinen. Sie wollte ihre Angst nicht zeigen. Als sie dann aufblickte, sah sie, dass sie von mehreren Kindern unterschiedlichen Alters umgeben war, die sie neugierig ansahen.
"Hast du dir wehgetan?", fragte eines, und ein anderes bot ihr einen Apfel an. Sie fragten sie nach ihrem Namen und nannten auch die eigenen. Seltsame Namen, schöne Namen. Ihre Tränen hörten auf zu laufen. Sie versuchte, die Namen nachzusprechen. Als es ihr nicht gleich gelang, lachten alle. Freundlich lachten sie, und ihre Angst schwand. Ein Mädchen nahm sie bei der Hand und zog sie ein paar Stufen zu einer offen stehenden Wagentür hinauf. Im Wagen war das Sonnenlicht ausgesperrt. Es roch fremd - wie eine Blume in einem Märchen wohl riechen konnte. Überall an den Wänden hingen bunte Tücher und bunte Tücher waren auf den Bänken entlang des Tisches. Als sich ihre Augen an das Dämmer im Inneren des Wagens gewöhnt hatten, sah sie auf der hinteren Bank eine Großmutter sitzen, nein, eine Urgroßmutter musste das sein. Die lachte ohne einen einzigen Zahn. Sie sprach zu ihr in einer fremden nie gehörten Sprache.
"Sie ist unsere Mama. Sie sagt, du bist ihr willkommen."
Das Mädchen neben ihr machte eine ausholende Geste mit der Hand.
Wie konnte die Frau, die doch bestimmt hundert Jahre alt war, die Mutter sein?
"Sie ist die Mutter von allen, verstehst du? Sie hatte Töchter und die hatten Töchter und die wieder. Siehst du, deshalb ist sie die Mutter von allen. Sie weiß alles. Sie ist schon sehr alt.
Ihr wurde eine Tasse Milch hingestellt. Die Alte sagte etwas.
"Du gefällst ihr. Sie sagt, du seiest sehr schön."
Wären da bloß nicht diese dummen Gedanken wegen der blonden Haare. Die Alte bedeutete ihr zu trinken und als die kalte Milch durch ihren trockenen Hals lief, fühlte sie sich plötzlich ganz wohl.
Zum Essen wurden alle zusammengerufen. Wie selbtsverständlich war auch für sie ein Teller da. Es gab Kartoffeln und Hühnerfleisch. Sie saßen an einem langen Tisch draußen neben den Wagen. Kinder, Alte, Junge, alles durcheinander. Und es gab nicht einen einzigen ruhigen Moment. Manchmal war ihr, als ob sie sich stritten, dann lachten sie wieder. Da konnte es nicht so schlimm sein.
Wie still es immer bei ihnen zu Hause war, wenn sie aßen. ‚Beim Essen wird nicht geredet', sagte der Vater. Irgendwie musste sie nun darüber lachen.
Das erste Mal in ihrem Leben durfte sie reiten, sie durfte ein eigenartiges Musikinstrument halten und die Saiten zupfen, sie durfte ein Baby wiegen und zusehen, wie ein paar kleinere Kinder in einer Zinkwanne unter freiem Himmel gewaschen wurden. Und tatsächlich konnte einer der Zigeuner zaubern! Er holte aus ihren Nasenlöchern kleine weiße Kugeln und aus seiner geschlossenen Faust zog er ein nicht endendes buntes Tuch aus dünner Seide, das er ihr schenkte.
Es war schon dunkel, als sie nach Hause ging. Weil sie schlecht log und dennoch nicht die Wahrheit sagen wollte, bekam sie Hausarrest und konnte an den nächsten Tagen nicht zu ihren neuen Freunden.
Die Nachbarin wusste einige Tage später zu berichten, dass „sie sie nun endlich abgeholt haben."
"Wohin hat man sie gebracht?" fragte die Mutter.
"Soviel man hört, direkt nach..." sie senkte die Stimme zu einem Flüstern.
"Wen?" fragte sie, aber sie erhielt keine Antwort. Aus den Gesichtern der Erwachsenen ließ sich unschwer ablesen, dass es ein schrecklicher Ort sein musste. Und sie erriet, von wem die Rede war.
Die Mutter von allen, den Zauberer, das Baby. Wie freundlich waren sie zu ihr gewesen.

                                                         ***

Es klingelte. Ihr Blick fiel auf die Küchenwand. So pünktlich? Sie erhob sich, nahm einen tiefen Atemzug und ging zur Tür. Blumen hier, Küsschen dort. Gut schaust du aus. Keinen Tag älter geworden. Nach und nach kamen sie und suchten sich ihren Platz am Kaffeetisch. Sie lobten den selbstgebackenen Kuchen über den grünen Klee. Und wie frisch du aussiehst. Als seiest du fünfzig und nicht achtzig Jahre alt geworden. Du wirst uns alle noch überleben.
Sie hörte mit einem Viertel, vielleicht auch nur mit einem Achtel der allgemeinen Unterhalt zu, widmete den Rest ihrer Aufmerksamkeit ihren beiden Urenkeln.
"Und da sind sogar welche aus Afrika", beendete Florian einen atemberaubenden Satz über die Vielvölkerschicht in der Nachbarschaft.
Seine Zwillingsschwester Tanja setzte hinzu: „Sinti und Roma gibt's da auch."
Der Goldfasan hatte bereits rote Flecken im Gesicht.
"Wenn ich das schon höre: Sinti! Roma! Zigeuner sind das! Gesindel!"
Florian empörte sich. ‚Zigeuner' sei ein Schimpfwort und stamme von ‚Ziehgauner'. Das habe ihr Geschichtslehrer (Anmerkung siehe unten) ihnen erklärt und der wisse so was ganz genau.
"So, tut er das! Der hat doch keine Ahnung. Arbeitsscheu sind die, den ganzen Tag hängen sie herum und klauen wie die Raben. Keinen Deut haben sie sich geändert."
"Beruhige dich, mein Lieber, wir sind hier, um den Geburtstag deiner Schwester zu feiern."
"Wie kann ich ruhig hier sitzen und feiern, wenn ich nicht weiß, ob vielleicht gerade jetzt mein Haus ausgeräubert wird."
"Ach, man muss differenzieren", warf Hildegard ein, „es gibt solche und solche."
"Ja, und die anderen Ganoven. Nichts hat sich geändert. Sie können nicht mehr vor der Stadt lagern. Zum Glück, sage ich. Aber dafür haben wir sie hier in der Nachbarschaft auf dem Hals. In so genannten Asylunterkünften. Scheinasylanten, sage ich. Wenn ich das Sagen hätte, ich hätte schon längst ....aber lassen wir das."
Ganz ruhig, gefährlich ruhig war ihre Stimme, als sie sich äußerte. Hier und jetzt wollte sie endlich klare Verhältnisse.
"Was hättest du schon längst? Auschwitz wieder aufgebaut?" Sie achtete nicht auf die empörten Aufschreie, die Versuche, mildtätig den Frieden wieder herzustellen.
"Was weißt du von den Zigeunern, wie du sie immer noch nennst. Nichts weißt du. Du schaust nicht weiter als deine Nasenspitze reicht. Du hattest eine gute Chance, Dinge anders zu tun. Du hast sie nicht genutzt. Du mit deinen fünfundachtzig Jahren bist nicht ein bisschen klüger geworden. Und was schlimmer ist: Du hast das Erbe an deine Töchter und Söhne weitergegeben. Du bist der, der sich nicht geändert hat. Ihr alle hier - von Florian und Tanja mal abgesehen" sagte sie mit einem Blick in die erschreckten Gesichter von den Beiden, „vor allem ihr, die ihr die Zeit miterlebtet, ihr sitzt engstirnig in euren Häusern, die ihr auf dem Schuttplatz unserer Geschichte aufgebaut habt, mit der Gewissheit, dass das Recht auf eurer Seite ist. Ihr könnt doch der Mutter von allen nicht das Wasser reichen. Und jetzt geht. Ich hab genug von euch. Die Kaffeerunde ist beendet."
Sie erhob sich, verließ die erstarrten Menschen um den Tisch in ihrem Wohnzimmer. Sie zog den Mantel an und ging hinaus in die klare Luft, die ihr mit erster Wärme des sich ankündigenden Sommers entgegenwehte. Sie war sich der Frische bewusst wie lange nicht.

Anmerkung der Autorin:
Der Geschichtslehrer hat den Begriff leider nicht richtig erklärt.

„Zigeuner" stammt nicht in dieser Form vom Wort „Zieh- Gauner" ab, da er in vielen Sprachen in ähnlichen Formen auftritt und somit anzunehmen ist, dass es einen gemeinsamen Wortstamm gibt. Als die ersten Sinti im 15. Jahrhundert in die Gebiete der heutigen BRD kamen, wurde der Begriff noch neutral bewertet. Im Französischen heißen die Sinti und Roma „tsiganes" und im Schwedischen „zigeunere". Die Wortherkunft ist bis heute nicht einwandfrei geklärt, evtl. stammt es aus griechischem oder persischem Sprachraum.

Diese kleine Geschichte, die leider immer wieder (oder noch) aktuell ist, war Teil einer Hamburger Aktion "Fremd ist der Fremde nur in der Fremde" (ein Zitat von Karl Valentin, geboren 4. Juni 1882, gestorben 09. Februar 1948 -).