Das Versuchslabor war bis an die Decke gefliest. Weiß. Steril. Die Regale entlang den Wänden enthielten in geordneter Formation kleine und größere Terrarien und auch ein paar Drahtkäfige. Sie waren mit Messintrumenten und Thermometern ausgestattet und zeigten an, ob sich die „Bewohner" in einem gesunden Klima wohlfühlen konnten.
Zwei junge Leute waren geschäftig dabei, die Behälter zu reinigen. Die Arbeit schritt bei unterhaltsamen Gesprächen munter voran.
Nach dem Säubern folgte die Fütterung der Tiere. Auf einer Liste wurde genau vermerkt, was jedes haben sollte und in welcher Menge und Zusammensetzung es das Futter bekam.
Silke hatte ihre Liebe insbesondere den Fröschen und Lurchen gewidmet und Frank kümmerte sich um die bepelzten Bewohner des Labors. Die beiden Studenten waren froh, diese Arbeit verrichten zu können. Wie viele ihrer Kommilitonen mussten sich für ein Zuverdienst die Nächte mit Kellnerei um die Ohren schlagen oder ähnlich mühsam ihr Studium finanzieren. Da hatten sie es hier besser und was dazu kam, sie konnten ihre Studien hier im Bio-Semester nutzen.

Einigen Tieren hatten sie im Laufe der Zeit Namen gegeben. Silke vor allem hatte ihren Spaß daran, "Ähnlichkeiten" zwischen den Fröschen, Lurchen und andere Amphibien zu bekannten Profs der Uni herzustellen und sie dann nach ihnen zu benennen. Der Prof hörte es nicht gern. Die mit der Namensgebung einhergehenden Emotionen würden möglichen Experimenten im Wege stehen. Irgendwie hatte er auch recht, aber so ein kleiner netter Frosch wie „Hopps" musste einfach beim Namen gerufen werden, wenn es ihm wie schon des öfteren gelungen war, seinem Terrarium zu entweichen. Silke hatte Mühe, ihn wieder einzufangen und es war nicht besonders hilfreich, dass Frank sich über sie lustigmachte. Hopps war dennoch kurze Zeit später wieder in seinem Heim und schmollte. „Hast du die Temperaturen schon aufgelistet?" fragte Frank und stellte gleichzeitig fest, dass dem nicht so war. „Wir müssen uns ein wenig beeilen; der Prof wird gleich hier sein." Silke nahm sich die Klemmtafel und einen Stift, schritt die Regale ab, trug Zahlen ein, verglich hier und da. Dies war eine eintönige Arbeit, und Silke liebte sie nicht besonders. Immer wieder rutschte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht und ihr war sehr warm. Sie hatte, weil es morgens nach einem trüben Tag aussah, einen Rollkragenpullover unter ihrem Arbeitskittel, dazu die Zimmertemperatur, die für ihren Geschmack viel zu hoch eingestellt war. Aber die Tiere benötigten es. Es handelt sich ausschließlich um Exemplare aus wärmeren Gefilden. „Der Prof sollte uns jedenfalls erlauben, die Raumlüftung an so warem Tagen anzustellen. Es ist kaum auszuhalten." „Wer hätte denn auch gedacht, dass es jetzt im Oktober nochmal so warm werden würde", entgegnete Frank. Kurz darauf betrat ihr Professoer den Raum. Ein Mann, der die Mitte des Lebens schon überschritten hatte und nach dem Aussehen ein geradezu asketisches Leben geführt haben musste. Hager war sein Gesicht, das eine schmale Brille noch dünner wirken ließ. Sein Kittel, den er nun gerade über einen kurzärmeligen Pullover streifte, hatte schon bessere Tage gesehen. Die Ärmel schlotterten, weil die dünnen, aber sehnigen Arme sie nicht ausfüllten. Und zu kurz waren sie auch. Die Ärmel. Unter dem Kittel war die alte Jeans zu sehen, die - könnte sie erzählen - von Demos berichten würden, die in den 70ern stattgefunden hatten. Seine Füße stecken in Riemensandalen von brauner Farbe, abgelaufen und ausgelatscht. All das konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass hier ein Mann stand, der sein Labor im Griff hatte. Mit Schwung hatte er die Tür zum Labor aufgestoßen und mit Schwung ging er sofort an die Arbeit. Er richtete sein Mikroskop her und ein paar Worte an seine beiden Lieblingsschüler. Doch obwohl sie sich alle schon mehr als drei Jahre kannten, herrschte zwischen ihnen der respektvolle Ton, den man oft bei Menschen findet, die einander mit Achtung, nicht mit Freundschaft, begegnen. Etwas distanziert. Prof. Wenzel war zudem auch kein Freund von Vertraulichkeiten, weshalb er gegen die Namensgebungen war. Denn Freundschaft, so schlussfolgerte er messerscharf, entstünde, wenn man sich beim Namen nennt. Beim Vornamen, wohlgemerkt. Wie konnte man einen Freund sezieren?

Die Versuche dienten ernsthafter Wissenschaft. Herr Prof. Wenzel war seit Jahren dabei, eine Möglichkeit zu finden, die beweisen sollte, dass das Leben eben nicht aus dem Wasser kam. Die von ihm aufgestellten Versuche gaben magere Ergebnisse und er sah sich gezwungen, einen Schritt weiter zu gehen. Er versuchte deshalb, mit einer Reihe von Experimenten, die nicht unbedingt die Zustimmung seiner Fakultät gefunden hätten, seine These zu beweisen.

Der Vormittag ging mit den üblichen Arbeiten in die Stunden des Mittags über. Nachmittags erwartete man eine neue Sendung mit Amphibien. Die Terrarien waren schon hergerichtet und Silke legte letzte Hand an die neu zu erstellenden Tabellen.
„Prof. Wenzel" fragte sie, „wie viele Frösche werden es diesmal sein?"
„Genau kann ich es gar nicht sagen. Ich habe versucht, mehrere unterschiedliche Lurche zu bekommen, doch man konnte es mir nicht fest zusagen, ob alle Arten lieferbar sein würden. Wir werden sehen."
Und damit wandte er sich wieder seinem Mikroskop zu, drehte sich aber kurz noch einmal um und setzte hinzu:
„Ich hoffe allerdings sehr, dass das seltene Exemplar des Lepto pentadactylus dabei ist."
„Den kenn ich nicht", meinte Frank, „was ist an ihm Besonderes?"
„Nun, er hat erstaunlicher Weise fünf Finger. Weshalb man ihn auch den Fünffingerigen Pfeiff-Frosch nennt. Er wird so groß wie ein Ochsenfrosch. Wir werden ihn nach abgeschlossenem Experiment an einen Zoo weitergeben. Für eine langfristige haltung dieses großen Frosches ist das Labor nicht ausgestattet."

In der Mittagspause machten sich alle Drei auf in die Mensa, als der Prof. sich kurzfristig anders entschied.
„Warten Sie bitte nicht auf mich, ich habe noch etwas zu erledigen."
Damit verschwand er ihren Blicken.
Was Silke und Frank nicht ahnten, war, dass ihr Professor zur Forschung und Bestätigung seiner These seit einiger Zeit an sich selbst Experimente vornahm. Ein letztes entscheidendes stand an, mit dem er die Fachwelt verblüffen wollte. Er hatte ein Serum entwickelt, mit dem er sein eigenes Zellgewebe verändern konnte, wenn er es sich unter die Haut spritzte. Ähnlich einer Lurchhaut sah es dann aus; die Veränderung war aber immer nur von kurzer Dauer. Nun hatte er das Serum um ein weiteres Mal verbessert und er konnte es nicht erwarten, das Ergebnis zu erleben. Der Zeitpunkt war gekommen. Er zog das Serum, welches er in einem gekühlten verschließbaren Fach aufbewahrte, im Labor auf eine Spritze. Er war aufgeregt und ärgerte sich sehr, als er durch die Anlieferung der bestellten Amphibien unterbrochen wurde. Sein Ärger wurde um einiges größer, als er entdeckte, dass der Fünffingerige Pfeiff-Frosch nicht dabei war. Der Bote, der ganz sicher keine Aktien in dem Fehlbestand hatte, wurde hart angeblafft.
Schließlich aber war Prof. Wenzel wieder allein und er konnte sich ganz seinem Experiment widmen.

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Zurück aus der Mittagspause entdeckten Silke und Frank die Neuankömmlinge. Prof. Wenzel war offenbar noch nicht zurück. So gingen sie routiniert an ihre Aufgaben und setzen die neuen Bewohner in die dafür vorgesehenen Behausungen. Vorerst war auch nicht mehr zu tun. Ein bisschen Futter, ein wenig Wasser. Außerdem gab es in den anderen Käfigen und Glasbehältern immer irgend etwas zu reinigen. Manchmal starben die Tiere, nachvollziehbar oder ohne, dass ein offensichtlicher Grund vorlag. Es war die Aufgabe von Silke und Frank, dann nach den Ursachen zu forschen. Plötzlich lachte Frank laut auf.
„Schau mal, wir haben offensichtlich einen zweiten „Hopps" mit der Sendung bekommen. Das ist ja wahrhaft ein Prachtexemplar." Er schaute unter den großen Labortisch und Silke folgte seinem Blick. Da saß ein Riesenfrosch. „Das muss der Lepta - Lepto - Dingsbumms sein."
„Der Lepto pentadactylus."
„Genau. Schau mal, richtig hat er wirklich fünf kleine Finger. An beiden Vorderbeinen."
„Na, das soll ja er wohl auch."
„Erstaunlich, so einen hab ich noch nie gesehen."

Frank griff das sich sträubende Tier.
"Ganz schön schwer bist du, mein Schatz." Silke grinste. „Er hat Ähnlichkeit mit Prof. Wenzel. Lass ihn uns nur Prof nennen, das fällt dann nicht so auf." Sie setzten den Frosch in ein besonders großes Terrarium und schlugen im Fachbuch nach, welche Temperatur er benötigte und was er fressen würde. Er sollte sich richtig wohl bei ihnen fühlen.                                                           

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Zu aller Kummer blieb Prof. Wenzel verschwunden. Man munkelte etwas von einer Affäre in Übersee und von dunklen Geschäften mit der Exoten-Mafia, die heimlich Tiere ins Land schleust. Richtig nachvollziehen konnte es eigentlich keiner. Vor allem Silke und Frank bestritten energisch jede kriminelle Energie ihres Profs. Sie sorgten dafür, dass die Thesen in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Das weltweite Aufsehen hätte den Prof sicher gefreut.                                                            

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Der Fünffingerige Pfeiff-Frosch verweigerte leider lange Zeit die Nahrung und wurde - schon völlig abgemagert - dem Zoo in der Nachbarstadt übergeben. Dort fristet er noch heute ein recht armseliges Dasein und Wissenschaftler aus aller Welt kommen immer wieder, dieses Exemplar unter die Lupe zu nehmen, ohne es einer Liste zuordnen zu können.

veröffentlicht in "Aus der Feder einer Schreibgruppe" edition feldhase, 1994