Gut. Ich bin verrückt. Ich könnte mit dem Flieger binnen zwei Stunden in Petersburg landen. Von Hamburg direkt. Aber ich fliege nicht gern. Wenn es nicht sein muss und es Alternativen gibt, überlass ich den Himmel den Vögeln. Schließlich sind sie dort zu Hause. Ich nicht. Ich gehöre auf die Erde. Eventuell noch auf Wasser, denn letztendlich kommen wir dort alle her.

 

Also fliege ich nicht von Hamburg bis Petersburg, sondern nehme ein Schiff. Besser gesagt, das Schiff, denn die Auswahl ist eher klein. Um genau zu sein: Es fahren zwei Schiffe auf der Route. Die „Transeuropa" und die „Translubeca". Sie firmieren unter dem Namen FINNLINES und sind alle beide deutsch beflaggt.

 

Die Fahrt startet indes nicht in Hamburg, sondern von Lübeck und dauert rd. 61 Stunden. Das ist ein Happen mehr als die zwei Flugstunden, aber: Der Weg ist das Ziel, wie wir seit Konfuzius wissen und ich für meinen Teil reise gern lange an, um mich auf dem Weg zum neuen Ort mit Gegebenheiten vertraut zu machen.

 

In Lübeck wartet also die „Transeuropa" auf mich und andere. Es handelt sich dabei um einen Kombi-Frachter, der mit viel Last und Lastwagen und mit einigen wenigen Passagieren beladen wird. Via Monitor im TV lässt sich verfolgen, wie die Route verläuft. Auf der Trave sucht sich das Schiff den Weg zur Ostsee, umrundet Bornholm auf der Seeseite und folgt dann der alten Wikinger-Route ab Gotland quer über die baltische See. Der Hafen, den die „Transeuropa" vor Petersburg anläuft, ist Helsinki. Man sollte meinen, nun bräuchte es nur noch die paar Seemeilen den Finnischen Meerbusen durchquerend und schon sind wir in Russland angekommen. Aber da es sich um einen Frachter handelt, dauert es nahezu einen ganzen Tag, um das Schiff in Helsinki zu ent- und beladen.

 

Helsinki ist der Hafen, in dem die Krane Namen tragen. Vor uns direkt am Kai steht einer, der heißt „Olof" und der ackert für viele, hebt unermüdlich Container an und lässt sie feengleich an Bord schweben, um dann mit freiem Greifarm wieder zurückzuschwenken, sich eines neuen Containers zu bemächtigen.

 

Das geschäftige Hafenleben spielt sich vor der Silhouette der finnischen Wälder ab, unmittelbar. Das ist ein seltsamer und wunderschöner Ausblick von einem der höheren Decks. Sicher, es gibt auch Industrieanlagen. Aber die verkrümeln sich geradezu vor diesem satten Grün der hochstämmigen Bäume.

 

Die Sonne scheint und verlacht den Sturm, den wir in der Nacht auf offenem Wasser überstanden haben. Vielleicht mögen gesottene Seebären das nun ihrerseits verlachen, aber für mich war es ganz schön schaukelig. Außerdem durchschnitt das Schiff die ganze Nacht "Nebel des Grauens", was die Sache nicht gerade heimelig gemacht hatte.

 

Die Männer unten am Kai - es sind ausschließlich solche - rufen einander zu und es hat den Anschein, als stritten sie miteinander. Aber das tun sie nicht. Sie sind nur einfach sehr laut, damit sie das Getöse der warnend läutenden Alarmglocken an den Schienenfahrzeugen, das Gehämmer an den Bordwänden und die Motoren der diversen Maschinen, die da heben und greifen, wegfahren und schleifen, übertönen. Was ihnen misslingt. So kommt es zu Missverständnissen und darüber dann doch zum Streit. Das hätten sie auch einfacher haben können, wenn sie gleich gestritten hätten.

 

Gegen 17 Uhr heißt es dann „Leinen los!" - zumindest denke ich, dass die finnischen Ausrufe das bedeuten, denn die armdicken Taue vorn und hinten am Schiff werden an Bord geworfen - das machen vier kräftige Typen - und das Schiff nimmt ganz langsam wieder Fahrt auf. Bis zum nächsten Morgen soll es dauern, ehe wir in Petersburg im Industriehafen festmachen.

 

Ab 19 Uhr gibt es ein Abendessen, dass sich sehen und schmecken lassen kann. Skandinavisches Buffett in Warm und Kalt und Etliches an Getränken. Die Sonne vergeht glutrot im Dunst der Gewässer um Finnland und will gar nicht verschwinden. Es beginnen Ende Mai die hellen Nächte des Nordens, die mit Petersburger 'weißen Nächten' so oft, so rühmlich, so romantisch beschrieben werden. Ich bin gespannt.

 

Erst einmal mach ich mich weiter mit Gegebenheiten an Bord vertraut, lese die Hinweisschilder und die „Achtung"-Warnungen, schaue mir im TV die Vorrichtungen an, die für eine Rettung an Bord wichtig sein könnten und lese in der Toilette einen Satz auf Englisch, der wörtlich übersetzt heißt:

 

„Werfen Sie Hygiene-Artikel nur in die Staubdose."

 

Tja, Sprache ist was Lebendiges. Und ich meine, der Eimer mit dem Deckel ist schließlich auch aus Dosenmaterial. Und der Deckel hält vermutlich den Staub fern. Denn ich habe kein einziges Staubkörnchen darin gesehen.

 

Die Reise nach Petersburg über die Ostsee machte ich im Mai/Juni 2010