Ein Prozess

Essay, Januar 2008, vorgetragen im Zuge des Nebenstudiums zur zertifizierten Fallmanagerin

Alle reden von der Gewalt, mit der einige Kinder und Jugendliche ihren Alltag bestreiten. Da will ich nicht nachstehen und meine Gedanken in die Welt schicken (na ja, zumindest an die Besucherinnen und Besucher der edition hollerbusch).

 

Ich werde hier nicht mit negativen Statistiken und deren positiven Zahlen aufwarten, das geschieht an anderer Stelle schon zur Genüge und es gibt Leute, die geilen sich geradezu daran auf, wenn sie immer noch wieder neue Zahlenwerke der Öffentlichkeit preisgeben, wobei niemand genau prüfen kann, ob und welche Zahlen denn nun die „echten“ sind. Ich werde jetzt auch nicht davon anfangen „als wir noch einen Kaiser hatten“. Die Zeiten hatten ebenfalls ihre schlechten Seiten und mit Ladestöcken im Rücken und der Siebenschwänzigen Peitsche an der Wand konnte sich kein freier Geist entwickeln. Das – hoffe ich – haben wir doch überwunden.

 

Was hat sich aber geändert? Erstens einmal sind wir viele mehr geworden auf dieser Welt. Die Bevölkerungszahl verdichtet sich so allmählich auf der Erde und besonders dicht ist sie in den großen Städten. Da kommt zusammen, was sehr unterschiedlich ist. Charakterlich - meine ich, national - meine ich, persönlichkeitsgeprägt - meine ich. Die Liste ist endlos.

 

Gleich sind wir dem Grunde nach nur, weil wir einer Spezies angehören. Wir werden geboren, weil es Eltern gibt – ja, Eltern. Eine Mutter und einen Vater. Denn über den Zeugungsakt sind wir uns wohl alle einig. Noch. Es wird vielleicht eines Tages anders sein und Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" wird dann leider Recht behalten haben. Aber zu dieser Zeit ist die Elternschaft eher noch die Regel. Auch, wenn nicht alle Eltern gemeinsam die Kinder aufziehen und manchmal fehlt es überhaupt an der nachgeburtlichen Betreuung auch nur eines Elternteils. Dies vorweg geschickt, wird irgendwie deutlich, dass uns so vieles nicht trennt, wenn man den Homo sapiens sapiens (d.h. „der weise kluge Mensch – hört, hört!) betrachtet.

 

Aber Unterschiede gibt es dennoch. Siehe oben.

 

Beleuchten wir als Beispiel mal eine herausgegriffene Szenerie der Großstadt Hamburg (und die ist im Verhältnis eine kleine Stadt, verglichen mit Metropolen wie Mexico City und Tokio; ich hab grad gelesen, dass in China die Millionenstädte immer mehr werden). Also, Hamburg hat noch nicht einmal zwei Millionen und liegt an 132. Stelle auf der Liste der Millionenstädte, Zuviel des Guten, wie ein Zukunft schauender Landsmann aus Großbritannien - oder war es ein Franzose - ? der Name ist mir grad entfallen - schon im 18. Jh festgestellt hat. Er stellte die These auf, dass nur eine begrenzte Anzahl von Menschen ungestört miteinander auf begrenztem Raum leben kann. Er führte aus, dass 20 Menschen einander lieben und vertrauen, 200 Menschen einander mögen und sich treffen, 2000 Menschen noch miteinander, ohne größeren Schaden zu nehmen, leben können; bei 20000 hört der Spaß auf. Wenn die Anonymität einsetzt, entfällt die Verantwortung des Einzelnen für die Vielen.

Nun leben hier in Hamburg Menschen auf begrenztem Raum in einer weitaus größeren Anzahl zusammen, die, lebten sie in den genannten Gruppengrößen, vermutlich nicht die Probleme hätten, die heute an der Tagesordnung sind. Eine Gruppe mit 200 Menschen würde sich kennen, sogar noch gut. Der Bengel von drei Häusern weiter würde den Opa des Nachbarn namentlich grüßen und ihm manchmal ein Brot vom Bäcker holen. Würde er dies nicht tun, hätte er schon kein Benimm und keine Ehre mehr am Leib und vor allem wären seine Eltern traurig darüber. Das Mädchen ein paar Straßen weiter würde wissen, wem sie vertrauen kann und jemand, der sich an ihr vergreifen würde, wäre verbannt und geächtet. Die Gegend, in der diese Menschen leben, hat Platz für Abenteuer am Fluss, die Familie gibt den Kindern das Wissen weiter und es ist immer Zeit für ein Schwätzchen und für die Beantwortung dringender Fragen wie z.B., weshalb die Vögel nach Süden ziehen, wenn es Zeit ist und welche Zeit die beste ist, um die Kartoffeln zu ernten.

 

Nun, wir können dieses Szenario nicht mehr herbei schaffen. Es ist von gestern. Wir müssen uns auf das Heute einstellen und damit umgehen. Wir müssen Abenteuer woanders suchen und die Stärke an anderem als an dem Holzklotz und der Axt erproben. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Letzteres wird ab und an ja versucht, ohne dass der Kick lange anhält.

 

Also begeben wir uns in die virtuelle Welt und stellen fest: Woanders ist es viel besser. Da gibt es Figuren, die sind einfach nicht tot zu kriegen. Die stehen immer wieder zu neuem Leben auf und Schätze gibt es, die man finden kann. Reich wird man selbst davon nicht, das schaffen andere.

 

Aber irgendwann möchte man das. Reich werden. Die Abenteuer selbst erleben. Ins Reale umsetzen. Man möchte es spüren. Wie ist das eigentlich wirklich, wenn jemand in den Dschungel geht, um gegen wilde Tiere zu kämpfen? Wie ist das, wenn ein Mensch stirbt? Oder auch nur Blessuren davon trägt?

 

"Das probier ich also aus. Und im Gegensatz zu früher, als meine Eltern verschämt darüber waren, kommt heute keiner, der mir die Verantwortung für mein Tun abnimmt. Im Gegenteil, heute kommen Fotografen und Schreiber der Journaille und auch seriöser Tageszeitungen, und setzen mich so richtig in Szene. Bin ich nicht gut gelungen? Hej, Freunde, schaut! Das bin ich! So seh ich aus, ich der Coole. Nicht umsonst haltet ihr mich für den Größten. Ich hab euch gezeigt, wo es langgeht. Ihr braucht es nur nachzumachen, dann bekommt ihr vielleicht noch mehr Presse. Und das Fernsehen war auch dabei. Die haben sogar das Video gesendet, was mein Freund von mir und dem bescheuerten Typen, an dem ich mich ausprobiert habe, gedreht hat. Bin ich ein Deutscher, schrei ich laut „Hurra!“; in anderen Sprachen gibt es sicher eine Übersetzung dafür. Mann, fühl ich mich gut. Was macht es schon, dass ich „mal eben“ für ein paar Jahre in den Knast gehe. Wenn ich wieder raus bin, kann ich euch noch ganz andere Dinge zeigen. Dinge, von denen ihr heute nicht einmal träumt. Ich freu mich geradezu darauf. Mein älterer Cousin wurde vor ein paar Jahren auch mal eingebuchtet. Heute ist er der Chef einer richtigen Gang auf St. Pauli. Ich treffe ihn manchmal. Und er hat immer ein Lächeln für mich und manchmal etwas Stoff, mit dem es sich leichter träumt und der mich den Hunger auf Leben vergessen macht.."

 

Solche oder ähnliche Gedanken mögen in den Köpfen derer vorgehen, die sich nicht trauen, gegen echte Gegner zu kämpfen, die es nicht gelernt haben, fair zu sein, weil zu ihnen auch keiner fair ist. Sie können keinen guten Wettkampf zu bestreiten, sondern suchen sich den Schwächeren, um ihre Ohnmacht, die sie allerorts erleben – zu Hause, in der Schule und anderswo - in Macht umzuwandeln. In genau die Macht, die ihnen täglich dort begegnet, wo eigentlich Liebe und Verständnis ihnen bei ihrer Entwicklung helfen soll.

 

Und da schreien manche nach härteren Strafen. Nach Haftstrafen für Kinder. Menschenskinder, die wir alle sind: Würden Gefängnis und ähnliche Strafen zu einer Besserung führen, längst lebten wir in einer Welt, gegen die das weiland beschriebene Paradies ein Müllhaufen wäre. Paradies! Schaut zurück und urteilt selbst, wie es bisher gelaufen ist.

 

…wenn nur ein Leben hinter Gittern klagt,

dann trügt hier wohl der schöne Schein,

dann haben alle schlicht versagt……

 

(Zitat aus einem der „Jahreszeiten-Sonette“)

 

Wo findet sich das Schild, welches früher an allen Spielplätzen, Baustellen oder sonstigen gefährdeten Orten hing:

 

Eltern haften für ihre Kinder!

 

Oder wann kommt der Moment, an dem ein Leuchten von Millionen Glühlampen durch die Dunkelheit der Verbohrtheit strahlt, in die Köpfe dringt und dazu führt, dass alle erleuchtet werden und feststellen, dass diese Schwierigkeiten, die zur Zeit (und auch schon länger) bestehen, hausgemacht sind?

 

Wer ist es denn, der gegen die Ganztagsschulen ist, der Stellen im Sozialbereich ohne Ende streicht, der die Erwachsenen arbeitslos macht und in den Suff treibt, in dem sie nicht mehr wissen, was ihre Kinder tun? Leeres Gerede vom nationalen und internationalen Unsinn. Die Welt wird von Erwachsenen beherrscht. Weshalb benehmen sie sich nicht so und übernehmen endlich Verantwortung für die, die sie in die Welt geboren haben und hören auf, das ungeborene Leben noch vor die Hungernden zu setzen in Fragen des Schutzes? Wer nimmt die Eltern in die Pflicht und lässt sie wieder für ihre Kinder haften? Wie kann es angehen, dass in einem Stadtteil wie Hamburg-Wilhelmsburg – natürlich nicht nur hier – Mütter und Väter um 22 Uhr nicht wissen, wo ihre 10 – 12-jährigen Sprösslinge stecken? Und dies lapidar vor Kameras zugeben, ohne mit der Wimper zu zucken? Und es völlig normal finden? Haften Eltern nicht mehr für ihre Kinder? Machen wir uns keine Illusion - dafür gibt es auch keine Haftpflichtversicherung, für diese Verantwortung.

 

Ich bin weit davon entfernt, hier in den Eltern die alleinigen „Schuldigen“ zu suchen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass sie die Verantwortung haben, und zwar für den Zeitraum, in dem ihr Kind das nicht alleine kann, es aber für das spätere Leben lernen muss. Wenn das umgesetzt würde, wären die Diskussionen in der Familie eine andere. Und es hört auf, eine Frage der Ehre zu sein, ob man den Nachbarsjungen, der eine große Klappe hat, einfach absticht. Die Ohrfeige, die das Kind vielleicht nach so einer Tat vom Elternteil erhält, sollte mit doppelter Wucht an den austeilenden zurück schlagen. Vor der Tat ist Handeln angesagt. VOR DER TAT. Natürlich benötigen die Eltern, so sie es früher auch nicht gelernt haben, Erziehungsberatung von Kompetenzen, die ihnen kostenfrei zur Verfügung gestellt werden; wenn es sein muss, mit Verpflichtung.

 

Und jetzt warte ich mit einem ganz ketzerischen Ansinnen hier auf:

Ich bin dagegen, dass die Volljährigkeit vom Alter her definiert wird. Diese starre Regelung führt dazu, dass Jugendliche, die zu schnell gewachsen sind und deren geistige Entwicklung nicht Schritt gehalten hat, in ihr Verderben getrieben werden, indem man sie einer Verantwortung zuordnet, mit der sich viele der älteren Erwachsenen schwer tun (s.o.). Besser wäre es, Volljährigkeit „auf Antrag“ zu genehmigen, nach eingehendem Gespräch mit dem Betreffenden. Aber das ist vermutlich zu abwegig gedacht. Da käme auch gleich wieder die Bürokratie auf den Plan. Und – wo wären wir denn - wenn die von den Parteien so umworbenen, ganz plötzlich mit regelmäßiger Wiederkehr in Zeiten der Wahl so wertvoll gewordenen 18jährigen noch nicht wählen dürften, wo doch jede Stimme zählt?

Man sieht allerdings auch, was dabei heraus kommt – bei den Wahlen, meine ich.

So möchte ich zum Schluss die mir wichtigen Sätze noch einmal herausstreichen:

 

- Information – JA! Aber aufgeilende und zum Brusttrommeln verführende Presse – NEIN!

- Nach dem ersten Vorfall, der Anlass zur Sorge gibt, Verträge mit den Eltern schließen, die sie in die Verantwortlichkeit bindet, die ja ohnehin gegeben ist

- Kindern und Jugendlichen – am Ende allen miteinander Lebenden – eine Welt eröffnen, die ihnen Alternativen zu ihrem Hass ermöglicht

- den Fokus der Menschen wieder auf die lebendige Welt lenken

 

Wenn Sie, die Sie dies gelesen haben, ähnlicher Meinung sind, geben Sie sie gern weiter.

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.